Das kann ich leider bestätigen. Ich habe das Gefühl, dass ich trotz Übens kaum das Niveau schaffe, das meine Kolleg/in/en so nebenher spielen.
Ich merke das immer besonders, wenn für verschiedene Anlässe kurzfristig ein Saxophon Quartett spielen muss und die lieben Kollegen meinen, da müsste man vorher mal die Mappe durchblättern, welche Stücke gespielt werden. ICH muss jedes Stück teilweise Monate im Voraus intensiv üben, damit das halbwegs unfallfrei läuft und muss mir dann anhören.
Die Sachen sind eh nicht schwer, das müßtest Du mit 7 Jahren Praxis schon vom Blatt spielen können.
Da weiß ich dann nie, ob es daran liegt, dass die alle schon als kleine Kinder begonnen hatten und ich erst Mitte 40, ob bei mir das musikalische Gehirn mangels Nutzung verkümmert ist oder ich einfach immer noch zu wenig übe. Mangels anderer Stellschrauben an denen ich drehen könnte, übe ich dann eben.
Es ist in der Tat so, dass man sehr viel schneller neue Fähigkeiten erwerben kann, je jünger man ist. Zwar ist unser Gehirn bis ins hohe Alter hinein flexibel (es sei denn, Starrheit und/oder Demenz lähmen uns), aber im höheren Alter braucht es eben länger. Wahrscheinlich haben Deine Kollegen wirklich schon viel früher das alles gelernt (und sind sich dieses wichtigen Zusammenhangs offenbar gar nicht bewusst, wenn sie solche Sprüche raushauen). Und diese schon früh erworbenen Fähigkeiten machen ihnen das Blattspiel natürlich deutlich leichter.
Ich habe übrigens ein ganz ähnliches Problem wie Du, allerdings betrifft das bei mir eine Teilfertigkeit, nämlich das Improvisieren. Ich habe damit (abgesehen von ein bisschen eigenmächtigem Bluesgedaddel gegen Ende der Schulzeit) ganz gezielt erst im Kirchenmusik-C-Kurs nach der Schulzeit angefangen, nachdem ich bereits ein recht hohes Niveau im Literaturspiel erreicht habe. Mein erster Lehrer war auch ziemlich gut, aber schon damals habe ich bemerkt, dass ich etwas verpasst haben muss. Mein dritter Lehrer, den ich vom 2. bis 4. Semester im Studium hatte, war hingegen die absolute Katastrophe. Musikalisch war er top, methodisch dagegen absolut flop. Vielleicht hätte ich in dieser Zeit noch etwas gut machen können, aber so habe ich statt Kompetenzen Blockaden aufgebaut, die mein letzter Lehrer (der dann wieder gut war) erst einmal mühsam abtragen musste.
Ich arbeite bis heute daran, mir das Improvisieren anzueignen, merke aber eben, dass es in meinem jetzigen Alter längst nicht mehr so leicht ist. Aber ich gebe nicht auf. Ein Gutes hatte das ganze Leid aber auch: Ich beschäftige mich äußerst intensiv mit Improvisationsdidaktik. Aber für jeden einzelnen Gottesdienst üben muss ich bis heute, während einige meiner Kollegen mit dem gleichen Abschluss das alles locker aus dem Ärmel schütteln.
Unabhängig davon fehlen mir in meiner Tastenkarriere die Lebensjahre 10 bis 13, während derer ich überhaupt nicht gespielt habe, weil ich mit 9 meine erste Lehrerin bekam und die ein absoluter Griff ins Klo war (hatte mit 5 autodidaktisch angefangen und da übrigens auch schon auf eigene Faust improvisiert, freilich noch recht frei). Durch diese fehlende Übung in entscheidenden Lebensabschnitten war dann für mich eine Karriere als künstlerischer Pianist auch nicht mehr denkbar.
Du siehst also, Dein Problem ist durchaus normal. An mangelndem Üben scheint es jedenfalls
nicht zu liegen - auch wenn Üben an sich in dieser Situation der einzige Ausweg ist.
Ich bin übrigens überzeugt, dass sich viele der "meine Fortschritte sind trotz Üben kaum bemerkbar" Diskussionen erübrigen würden, wenn die Betroffenen in der Zeit, die sie damit zubringen zu jammern und zu diskutieren, tatsächlich üben würden. Eine Stunde üben, drei Stunden im Forum darüber diskutieren, dass nichts weiter geht...
In dem von Dir bezifferten Missverhältnis stimmt das sicherlich, aber pauschal würde ich das nicht unterschreiben. Man kann im Gespräch mit Kollegen sehr viel über das
Wie des Übens erfahren. Die Effektivität des Übens und die Freude daran können durch das richtige Hintergrundwissen und die passende Einstellung enorm gesteigert werden, und in dieser Hinsicht sind die Diskussionen mit Kollegen sehr hilfreich. Es bringt ja nix, drei Stunden lang verbissen eine bestimmte Stelle mit der falschen Methode zu üben, wenn die Kenntnis und Anwendung einer besseren Methode das Problem in 20 Minuten lösen könnte.