Klaus, ich glaube du verstehst nicht, oder willst nicht verstehen, was ich hier eigentlich sage.
Ich denke lieber erstmal, wenn es um derartige Grundsatz-Diskussionen wie hier geht, naturwissenschaftlich.
Das Problem bei dieser Sichtweise ist, daß das Wesen von Musik nicht rein naturwissenschaftlich begriffen werden kann. Die Physik ist nur das Mittel und Medium.
Bis auf Deinen dritten Punkt scheinen mir das physikalische Trivialitäten zu sein.
Der dritten Punkt spricht die Wahrnehmung an und stellt auch nur Selbstverständlichkeiten fest, wobei Du die Tendenz hast, den subjektiven Faktor zu betonen. Vielleicht existieren ja auch bei Dir größere individuelle Abweichungen, doch wir wollen hier ja eher über die Gemeinsamkeiten sprechen.
Das Wesen der Musik ist in dem kunstvollen Werk des Komponisten zu suchen, in der spezifischen Formgebung seiner Botschaft. Je nach Rezipient kann diese Botschaft von manchen sehr gut erfasst werden, von anderen weniger gut. Eine wichtige Voraussetzung ist dabei, daß die wahrnehmungpsychologischen Grenzen nicht überschritten werden. Es wäre z.B. sinnlos, für ein Instrument pp zu notieren, während andere ff spielen. Es wäre sinnlos, Gedächtnisleistungen zur Erkennung von Strukturen vorauszusetzen, die nicht erbracht werden können usw.
Es interessiert an dieser Stelle nicht, was ein Hindemith, der ja eine ganz eigene Musik-Theorie hatte, mal sagte.
Es geht hier nicht um die eigene Musik-Theorie Hindemiths, die habe ich nie erwähnt. Er hat nur das sehr passende Bild "Gravitation" für die tonale Wirkung gefunden. Andere sagen "Magnetismus". Es geht vielmehr um die Tatsache, daß das Hören von Intervallen, das hohe Differenzierungsvermögen in der Nähe von konsonanten Intervallen, das tonale Hören, im Menschen eingeprägt ist. Er kann sich davon praktisch nicht lösen, obwohl das Gehirn eigentlich sehr flexibel ist. Die Geschichte des ehemaligen Zwölftonkomponisten Pärt ist ein Beispiel dafür, daß man diese Prägung durch jahrelange Konditionierung fast verlieren kann, allerdings empfand er es schließlich als großes, existenzbedrohende Defizit und er brauchte fast ein Jahrzehnt lang, dieses zu überwinden. Er fing bei "Adam und Eva" an (u.a. Gregorianik) und mußte wieder vollkommen neu hören, was überhaupt Intervalle und Tonarten sind. Das erinnert an einen Hirnverletzten oder Schlaganfall-Patienten, der viele Funktionen nochmals erlernen muß.
Der Grund für die Einprägung des tonalen Hörens könnte plausibel in dem frühkindlichen Erlernen der Sprache liegen, wie neueste Arbeiten von Neurologen zeigen, die in diesem Thread zitiert wurden. Denn in der Sprache werden die wichtigen ersten beiden Formanten so gewählt, daß die konsonanten Intervalle deutlich bevorzugt werden. Das könnte für die entsprechende Prägung verantwortlich sein, die zur Folge hat, daß atonale Musik die meisten nicht dazu anreizt, sie häufiger zu hören, wie einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Neurophysiologie und Neuropsychologie von Musikern sagt (Eckart Altenmüller).
Das sind Befunde, vor denen man nicht die Augen schließen kann. Und hier sprechen Naturwissenschaftler, die Messungen durchführen und keine spekulativen Musiktheoretiker, die sich lediglich etwas zusammendenken!
Ich führe an dieser Stelle noch ein Beispiel an. Die Funeral Music for Strings von Witold Lutosławski, geschrieben für das Begräbnis Gustav Mahlers. Diese Komposition basiert auf einer Reihe und es werden alle 12 Töne des Tonsystems verwendet. Ich denke es kann niemand ernsthaft behaupten, dass in diesem Werk kein Gefühl zum Ausdruck gebracht wird.
Daß "atonale" Musik oder "Zwölftontechnik" Gefühle zum Ausdruck bringen kann habe immer wieder betont. Es geht um die Gefühlsqualität. Daß Du jetzt als Bespiel eine "Funeral Music" anführst, welche mit Tod und Trauer, mit die negativsten Gefühel ausdrückt, bestätigt ja nur meine Ausführungen, ebenso wie die das Schönberg-Beispiel von Günter Sch "Ein Überlebender aus Warschau", welches auf die Judenvernichtung und das Warschauer Ghetto anspielt.
Zitat aus dem Werk: "In einer Minute will ich wissen, wieviele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!"
Ich lese gerade, daß neuere Methoden der Gehirnforschung (PET) interessante Ergebnisse zeigten. Manfred Spitzer referiert in seinem Buch "Musik im Kopf" (S. 395) die Arbeiten von Blood et al. (1999) folgendermaßen:
...konnte gezeigt werden, daß die Hirnaktivierung (durch Dissonanz und Konsonanz) nicht durch einen fröhlichen oder traurigen Affekt, sondern durch den Grad der Angenehmheit beeinflusst wurde.
...
...konnte im Fall der Patientin I.K. klar gezeigt werden, daß ... Emotionalität und Wohlkang zumindest neurobiologisch klar getrennt sind.
In diesem Sinne ist wohl der Satz im
Zeit-Artikel
(Christoph Drösser in: Neue Musik - Zu schräg für unser Gehirn) zu verstehen:
»Wir können Neue Musik besser verstehen, wenn wir sie häufiger hören - sie ist aber so komponiert, dass sie die meisten Menschen nicht dazu anreizt, sie häufiger zu hören.«
Günter Sch.;4551679 schrieb:
Ich kenne die anordnung dieser versuche nicht...
Mir ist sie ebenfalls unbekannt, doch man darf davon ausgehen, daß wissenschaftliche Ausagen erst dann getroffen werden, wenn die Ergebnisse statistisch signifikant sind.
In diesem Fall vermute ich, daß die beiden Gruppen "erfahrene Fans dieses Musikgenres" und "Unerfahrene" direkt miteinander verglichen wurden im Bezug auf Wiedererkennung von Reihen und die davon abgeleiteten Strukturen. Die Feststellung dieser Unterschiede ist die wesentliche Aussage, wie immer auch die Hörbeispiele gestaltet waren.
Günter Sch.;4551679 schrieb:
Warum beschränkten sich die erfinder Hauer u.Co. auf 12 töne? Die sind in der musikalischen praxis jedem musiker geläufig...
Das bestätigt meine Vermutungen, wäre aber eine Unzulänglichkeit der Konzeption, Harmonien bzw. tonale Bezüge vermeiden zu wollen.
Günter Sch.;4551679 schrieb:
Ob man sich mit dem asketischen verbot jeder wiederholung einen gefallen tat, bezweifele ich, das erschwert jedes wiedererkennen, das beim hörerlebnis eine wichtige rolle spielt.
So ist es! Ich hebe ja gerade darauf ab, daß bei verschiedenen Spielarten Neuer Musik die Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen vielfach nicht beachtet werden.
Günter Sch.;4551679 schrieb:
Dodekaphonie ist wie die fuge ein regelwerk, mit dem jeder gelehrte esel stücke von einiger länge machen kann, er muss die regeln kennen und befolgen, aber unter hand eines meisters wird daraus musik. Und nach gewisser zeit ist das verfahren ausgereizt.
Primär für ein Kunstwerk ist, daß der Künstler etwas zu sagen hat. Für die Aussage wird dann die passende Form gewählt. Durch das "eselsartige" Befolgen eines Regelwerkes kann kaum ein Kunstwerk entstehen, es sein denn, in der Art der Regelsetzung selbst liegt eine bedeutende künstlerische Leistung.
Die Regeln der Zwölftontechnik sind nicht plausibel, wenn der Hörer nicht bemerkt, ob sieim Stück gelten oder nicht gelten.
Das Prinzip der Fuge hingegen zeigt, daß es bis heute nicht ausgereizt ist. Sogar für den Kanon werden neue und überraschende Möglichkeiten gefunden. Das erwähnte
Beispiel von Pärt ist nämlich einer! Es dominiert ein einfaches melodisches Motiv und wird zu einem komplexen wirkungsvollen Geflecht von Linien entwickelt. Bis alles wieder in Harmonie und Ruhe endet.
Wenn Du du die eher vergeistigten Stücke des späten Bach oder Beethoven ansprichst, so stimme ich zu, daß die Strukturen manchmal recht komplex sind, insbesondere beim bereits völlig ertaubten Beethoven. Doch die Musik ist immerhin rhythmisch klar strukturiert, auch wird dem Prinzip von Konsonanz und Dissonanz gefolgt.
Ein wichtiger Grund für Dein "unverhohlenes Bekenntnis zum Banausentum" liegt m.E. darin, daß auch der taube Beethoven wichtige wahrnehmungspsychologische Grundsätze
verletzte, z.B. durch
* die permanenten großen Intervallsprünge einzelnder Instrumente,
* durch bizarre Rhythmen,
* durch die konsequente Polyphonie,
* durch krasse dynamische Angaben - meist nur fortissimo oder pianissimo.
wie die
Quelle: http://www.aeiou.at/bt133.htm (Autor nicht ersichtlich), vermutlich Deine, beschreibt.
Wie Musik in "erster Linie gehört wird" ist wohl von Hörer zu Hörer unterschiedlich. Ein rein emotionelles Hören kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
So wie ich es meine, ist es eher die Regel. Es ist bekannt, daß es große Unterschiede gibt, zwischen musikalisch Vorgebildeten und Nicht-Vorgebildeten. Bei ersteren findet beim Musikhören eine deutliche Aktivierung der linken Hirnhälfte statt, bei letzteren nicht, sie hören hauptsächlich über die rechte Hemisphäre. Die linke Hemisphäre ist eher auf zergliederndes Denken, analytische, serielle Informationsverarbeitung spezialisiert. Die rechte eher auf ganzheitliches Denken.
Spitzer geht in
diesem Video etwas auf die Thematik ein.
Nicht-Vorgebildete hören Musik in erster Linie ganzheitlich, jedenfalls eben kaum analytisch. Diese Beschreibung trifft eher zu auf das, was ich meine als der Begriff "rein emotionelles Hören".
Deine Selbstbeobachtung bestätigt, daß Du musikalisch vorgebildet bist und der "Verstand" beim Musikhören viel mehr beteiligt ist als bei Nicht-Vorgebildeten.
Und das Verfolgen von Motiven kann auch Spaß machen...
Sicher, aber eher wie das Lösen einer Denksportaufgabe als etwa eine ganzheitliche Erfassung, die wohl auch viel eher mit Emotionen zu tun hat.
Du schreibst: "Wir erkennen die Strukturen, ohne daß uns diese verstandesmäßig unbedingt bewußt sein müssen."
Aber Du hast nicht verstanden, das Du das nur kannst, weil Du diese Strukturen schon kennst.
Nein, das meine ich nicht. Mein Gedanke war, daß wir im Laufe unseres Lebens die unterscheidlichsten Muster von emotionellem Erleben kennengelernt haben. Ich meine das reale Leben, nicht die Musik. In der Musik wiederum können genau diese erfahrenen emotionellen Muster wieder (ganzheitlich) zur Resonanz gebracht werden. Wir erkennen sie in abstrahierter ganzheitlicher Form, aber nicht bewußt, analytisch, lokalisierbar.
Eine Kompositionstechnik ist einfach nur eine Technik. Sie sagt über den emotionellen Inhalt einer Musik nichts aus.
Es gibt Kompositionstechniken, die kommen den genetisch und frühkindlich bedingten Strukturen mehr entgegen als andere. Deshalb gibt es auch Unterschiede darin, welche mehr und welche weniger geeignet sind, ganzheitliche Erlebnisse, unbewußte Mustererkennung und auch Emotionen auszulösen.
Und nun zu dem Beispiel Bergs und den Tonanagrammen. Berg hat diese Anagramme in seinem Kammerkonzert verwendet (nicht in der Lyrischen Suite).
Danke für die Korrektur! Sie weist Dich als Kenner aus.
In meiner Quelle waren beide Musikstücke in einem Satz erwähnt und ich zitierte das falsche.
Entschuldigung!
Tonanagramme ...das sich auch "musikalisch" ein Portrait der Personen ergibt.
Danke für die Erläuterungen zu den verschiedenen Funktionsebenen der Tonanagramme.
Sie zeigen andererseits, daß Berg, obwohl noch der "verständlichste" der Neuen Wiener Schule, bei der Melodie aus 19! Tönen schon sehr an einen spezialisierten Kreis gedacht hat. Die Beispiele für Tonanagramme anderer Komponisten sind ja recht kurz und hatten vielleicht einen geringeren Einfluss auf das jeweilige Werk. Im Prinzip ist so etwas ja eine Spielerei, unter der die Gestaltungsfreiheit und Aussagekraft der Komposition nicht leiden sollte. Doch wer könnte beurteilen, ob die Komponisten hier manchmal übertrieben haben? Die Gefahr besteht jedenfalls prinzipiell.
Und bei einem Sonatenhauptsatz weiss man ebenfalls nicht, warum nun das eine Thema vielleicht hart und kantig klingt, und das zweite weich und lyrisch. Vielleicht ist dem Komponisten das Brot mit der Marmeladenseite auf den Boden gefallen, und dann hat er das erste Thema geschrieben?
Bei einem Kompositionsansatz, der sich von solchen Zufälligkeiten abhängig macht, ist es eher unwahrscheinlich, daß dies mit der nach außen drängenden künsterlischen Aussage zu tun hat. Diese ist ja zu einem gewissen Zeitpunkt im Künstler mit einer erstaunlichen Klarheit vorhanden. Er weiß oft recht genau, was zu dem enstehenden Werk passt und was eben nicht.
Und wir mögen ja gerade an Kunstwerken, wenn sich in ihnen Dinge verdichten, die wir selbst bisher nur erahnt haben und die im Werk dann in erstaunlicher Klarheit zum Ausdruck gebracht werden.
Das Ganze dürften eher ganzheitlich-emotionelle Vorgänge sein, die wohl noch kaum verstanden sind, wenn wir uns ihnen überhaupt auf der Erklärungsebene wesentlich nähern können.
Mögen viele nicht hören, welche Reihenform wo und wie verkomponiert wurde, so hören viele auch nicht, wo das 1. und das 2. Thema anfängt und wie sie in der Durchführung verarbeitet werden.
Hier spielen meiner Ansicht nach die o.g. unbewußten Wahrnehmungsprozesse eine Rolle, das intuitive Erfassen von Gestalten, Mustern usw., die mit Emotionen gekoppelt sind. Und denen können Kompositionstechniken besser entsprechen, die auf die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Menschen Rücksicht nehmen. Eine Musik, die das nicht tut, wird insgesamt weniger Gültigkeit haben oder eben nur für Leute, die über spezialisierte Wahrnehnmungsmöglichkeiten verfügen.
M.E. ist es aber möglich, Musik so zu gestalten, daß sowohl vorgebildete und nicht vorgebildete Hörer Gefallen daran finden. Das könnte z.B. der Fall sein, wenn komplexere Strukturen in einfachere aber dennoch aussagekräftige Strukturen eingebettet sind.
Passt hier vielleicht das Prinzip "omnia in omnibus" (Alles ist in allem)?
Viele Grüße
Klaus
EDIT: Wenn das Schönberg-Zitat mißverstanden wurde, ist das wohl hauptsächlich der Tatsache zu verdanken, daß aus ihm der Zusammenhang in dem es steht, nicht ersichtlich ist.