Eine Mitschuld muss ich an der Stelle aber auch den Musikschulen zulasten halten. Ich selbst bin Autodidakt (die 10 Klavierstunden als 5-Jähriger, der seine Lehrerin in den Wahnsinn trieb, zählen nicht), aber was den Kids heute in den Klavier- und Keyboardstunden beigebracht wird, kratzt teils gerade jenseits der Metropolen an Realitätsverlust. Ich rede hier nicht von bewusst angestrebter Klassik oder einer Spezialisierung an der Hochschule, ich rede von den Kids, die sich musikalisch bewusst in populäre Richtungen bewegen wollen, von ihren Eltern in die Musikschule gesteckt werden, dort auch was von pianistischem Verständnis lernen, aber in fünf Jahren Unterricht nie eine DAW zu Gesicht bekommen. In den Schulen sind gut ausgestattete PSRs da, vielleicht sogar ne echte Workstation, aber niemand hat deren Sequenzer je benutzt. Noch immer heisst es Begleitautomatik oder beidhändiges Spielen, dazwischen gibt's irgendwie nur sehr wenig - Bandkeyboarder unterrichten so gut wie nie, schon gar nicht angepasst auf die jeweilige Herangehensweise des einzelnen, die für ein angewandtes Gesamtverständnis unfassbar wichtig ist, mMn sogar die einzige definitiv nur autodidaktisch erlernbare Komponente - man kann einen Grundstock vermitteln, niemals aber einen eigenen Ansatz.
Ich kenne Kids im unteren zweistelligen Alter denen ich zum ersten mal nen Ableton Push in die Hand gedrückt hab und die hin und weg waren von den Möglichkeiten - das war das was sie machen wollten, aber nie konnten, weil es in der "klassischen Vermittlung" noch immer völlig unbekannt ist. Leuchtende Augen beim Erklären von Mainstage, beim Erzählen der Funktionsweise eines Arpeggiators oder in Abletonkursen. Wir leben im Zeitalter, indem eine Band mit teils 5 Keyboardspielern auf der Bühne in England gerade alles an minderjähriger Fanbase abräumt was geht (The 1975) und eine Menge Jugendliche hätten den Ansatz des Bandkeyboarders eigentlich in lebender Vermittlung vor sich stehen. Dann werden sie von ihren Eltern auf den "klassischen" Weg gejagt und verlieren instant sämtliches Interesse, selbst wenn man ihnen klarmacht, dass ihre Soundcloud-Idole viel eher dem Typus klassisches Kellerkind entsprechen und man für wenige hundert Euro sich alles benötigte zuhause hinstellen kann - es aber eben auch mehr Initiative benötigt, als einmal die Woche im Unterricht was neues zu lernen.
Das ist eben auch ein Problem, nämlich, etwaigen Nachwuchs zum bandtauglichen Keyboardspiel auszubilden.
Wenn man nicht gerade in einer wirklichen Großstadt mit eigener riesiger Musikszene und idealerweise mindestens einem riesengroßen Musikgeschäft ist, dann hat man schon mal verdammt wenig Auswahl, was Instrumentenunterricht auf Tasten angeht.
Erstmal gibt's Klavierunterricht. Der ist in den meisten Fällen rein klassisch. Wenn er nicht durchgehend rein klassisch ist, dann aber doch die ersten Jahre; will sagen, bis du auch nur "Song For Guy" von Elton John spielen darfst, mußt du durch mehrere Jahre Chopin und Mozart. Ich meine, wenn's wenigstens mehr Jazz-Klavierunterricht gäbe, das wär schon ein Fortschritt. Am Anfang Joplin statt Chopin, dann Standards aus dem Realbook, die man als Jazzer immer braucht. Gelegentlich mal zusammenbringen mit anderen Musikern, später vielleicht auch mal zu Jam-Sessions in Jazzclubs, damit die Schüler mal sehen, wie das ist. Wenn sie sich trauen, können sie auch mal mitmachen und kommen dann mit stolz geschwellter Brust aus'm Jazzclub, weil Leute für sie applaudiert haben, mit denen sie nicht verwandt sind. So würden sie dann auch gleich das – für einen Jazzer eh unerläßliche – Zusammenspiel mit anderen lernen. Und im Jazz lernt man eher, ein Gefühl für Groove und Improvisation zu entwickeln. Vom Jazz zum Rock ist es auch weniger weit als von der Klassik zum (Nicht-Prog-)Rock. Aber wo kriegt man sowas beigebracht?
"Klavier"-Unterricht heißt dann auch, was anderes als Hammerklavier lernt man da auch nicht. Und mit den "Fähigkeiten" landet man dann in einer Band, wo man auch mal Flächen oder Orgel oder Synthsachen spielen soll, und spielt die alle mit derselben Spielweise und demselben Tastenanschlag wie akustisches Piano.
Dann gibt's Keyboardunterricht. "Keyboard" = Arranger, also Tischhupe. Heißt in der Praxis: Yamaha PSR-E, linke Hand hält Akkorde, rechte spielt Melodie, den Rest macht das Rhythmusgerät mit Begleitautomatik. Außerhalb von "nur so für mich aus Spaß an der Freude" und Familienbespaßung taugt das höchstens noch für den Seniorentanztee in Kleinkleckersdorf; überall sonst wird man so zu einem Musiker, wie ihn Deutschland schon seit 20 Jahren nicht mehr braucht (oder wieviele Leute nutzen tatsächlich die eingebaute Begleitautomatik ihres Genos, statt MIDI-Files abzufahren?). Auch wenn heutzutage schon Einsteigerhupen einen mehrspurigen Songsequencer haben: Benutzt wird der nicht, weil schon die Lehrer damit nicht umgehen können und/oder glauben, daß der zum "Schummeln" anregt, weil man damit das Keyboard dazu bringen kann, ganz von alleine zu spielen.
Zumindest bekommt man da auch soundmäßig was anderes auf die Tasten und unter die Hände als Klavier – aber wie man auf Tasten einigermaßen annehmbar Flächen, Bläsersätze, Leadsynths oder dergleichen spielt, bringen sich im allgemeinen die Keyboarder eher selber bei und auch das nur, wenn sie talentiert und ambitioniert genug sind. Und das Rhythmusgerät ist vielleicht tauglich als Simulation des Zusammenspiels mit einer Band, jedenfalls besser dafür geeignet als ein Metronom, aber eben auch nur vielleicht. Bandtaugliches muß auch der vom Arranger Kommende sich selbst draufschaffen – wenn er dafür talentiert ist. Aber es gibt genügend Hobbykeyboarder, die kaum wissen, wie sie ihr Keyboard für das-und-das Lied einstellen müssen. Andererseits – wenn jemand kein Rockkeyboarder oder Jazzkeyboarder oder Bandkeyboarder werden will, sondern Elektroniker, ist der Arranger tatsächlich der bessere Einstieg als jahrelang nur Klavier.
Und drittens gibt's noch den C-Schein an der Kirchenorgel, aber den lassen wir mal außen vor.
Dominant ist tatsächlich der klassische Klavierunterricht. Der neigt allerdings dazu, die Bandtauglichkeit angehender Tastenmusiker ebenso zu versauen wie die Fähigkeit, irgendwas zu spielen, was nicht klanglich und/oder stilistisch Klavier ist.
Problem ist nur: Häufig hat man eben nur den zur Auswahl. Oder wenn's zusätzlich Keyboardunterricht gibt, wird der als "Spielkram" belächelt. Vielleicht ist auch das Argument gegen Keyboard, daß man dann erst ein 150 € "teures" Gerät kaufen muß, während die Eltern oder Großeltern oder so ein Klavier schon am Start haben (auch wenn das das letzte Mal vor Beginn der Zeitrechnung gestimmt worden ist).
Selbst wenn es irgendwo Lehrer gäbe, die bandtaugliche Keyboarder ausbilden könnten: Für die meisten Schüler hieße das dann dreistellige Kilometerzahl hin, dreistellige Kilometerzahl zurück. Aus der tiefsten Pampa ist das eine Tagesreise.
ribbon hat zusätzlich die Elektronik angeschnitten. Da sieht es ähnlich mau aus. Höchstens gibt's da mal Workshops zu bestimmten Geräten oder bestimmter Software, aber zum einen sind auch die meistens weit weg (du sitzt meinetwegen in Torfhaus im Harz, und der nächste Ableton-Workshop ist bei Just Music in Hamburg), und zum anderen setzen die meist Grundlagen voraus und können Unterricht nicht ersetzen. Gerade bei groove- und pattern/loopbasierter Elektronik ist es nicht ganz so wild, gerade die schafft man sich eher autodidaktisch drauf, ebenso einfaches Synthesizerspiel (nicht Level: Rick Wakeman, sondern Level: Gary Numan Ende der 70er). Aber auch da wird von absoluten Nullanfängern bzw. deren komplett musikunkundigen Eltern immer wieder nach Unterricht für sowas gesucht, was in mehreren Jahren komplett widersinnigem Klavierunterricht endet.
Martman