Ich glaube, "digitaler" Sound und die damit verbundenen Vorurteile kommen aus Zeiten, wo die Bittiefe der Analog/Digital-Wandler noch nicht hochwertig genug war - das Thema Oversampling greift hier ganz gut. Wenn man viele Gitarren-Plugins ohne Oversampling betreibt und dann einen Bend in den hohen Bünden, mit viel Gain macht, dann kann man hören, was ich meine - es ist sowas wie ein "dem Bend entgegenlaufendes, obertöniges Surren und Röhren", ganz leise im Hintergrund. Stört aber unheimlich, wenn man's einmal gehört hat. Mit Oversampling gibt es diese Problematik nicht, da ist nur noch geil. Generell, mit heutiger Technik wird niemand einen echten Unterschied hören können - im Gitarrensegment beweisen das Kemper, Quad Cortex, Line 6 Helix, Axe Fx 3 und Konsorten im A/B-Vergleich, und selbst im Budgetbereich hat seinerzeit Mooer mit den Micro Preamp Pedalen und dem Mooer Preamp Live ordentlich aufgeräumt mit dem Vorurteil des "digitalen Klangs". Live haben ja die Modeller auch fast komplett übernommen, weil die konsistente Qualität manchmal dem Mojo vorzuziehen ist. Aber AC/DC braucht, optisch zumindest, eine Wand voller Marshalls. ;-)
Ich glaube aber auch, dass weitere Faktoren hier eine Rolle spielen (hauptsächlich auf Gitarre bezogen, da dass "mein" Steckenpferd ist):
- Die Tatsache, dass Modelling meistens als günstiges "All-in-One"-Produkt vermarktet wird, steigert den Wert des "real deals"
- Ebenfalls mit dem obrigen Faktor verknüpft ist auch die erfahrung, die besagt "Wer günstig kauft, kauft zweimal" und "Wenn das so günstig ist, kann es nur ein Abklatsch sein" etc. Das hat etwas mit Konsumkultur zu tun, und dem Gefühl, dass Qualität seinen Preis haben muss. Dass der Entwickler von Software vermutlich weniger Betriebsausgaben hat als ein vollwertiger Amp-Produzent und der Entwickler für sein Produkt effizienteren Vertrieb realisieren kann, wird von vielen nicht wirklich wahrgenommen.
- Digitale Effekte/Amps etc. sind meistens digitale Replika eines analogen Objekts. Es gibt kaum eigenständige digitale Verstärkersimulationen zum Beispiel. Gerade in diesem Markt ist alles durchflutet von "based on the legendary amp EVH played, this amp-sim..." etc.- woher soll also kulturell die Wertschätzung des "digitalen" herkommen?
- Digitales Modelling wurde ursprünglich für einen Einsteiger-Markt konzipiert - hier galt es zwar, ein ansehnliches Produkt zu schaffen, aber es war nicht weiter schlimm, wenn es nicht wirklich an das Original rankam, denn zu seiner Zeit (Line 6 Pod Mk1 a.k.a "red bean") waren die Sounds doch gemessen am technischen Fortschritt ziemlich gut, und das Gerät unglaublich vielseitig einsetzbar, und das zu einem guten Entwicklungspreis, den man gut an seine Kunden weitergeben konnte.
- Mit dem vorhin erwähnten Punkt des Einsteigermarktes gilt aber auch, dass das produkt für bestimmte Umgebungen geschaffen wurde - Gitarren Plugins werden konizipiert für die Anwendung im Studio, und auch die zugehörigen Impulse Responses, also Cabinet-Emulationen, bilden einen Frequenzbereich ab, der dem des abgenommenen Cabinets mit einem Mikrofon gleicht. Wenn man dieses Signal jetzt über eine PA haut, oder über schicke Monitorboxen im Studio, dann wird das gut klingen. Wenn man allerdings dieses Signal nun in Gitarren-Speaker gibt, oder über meine "Creative Labs Mini PC Boxen", wirds gruselig - ist aber dann ein Anwendungsfehler. Nur leider weiß der Anwender das erstmal nicht und findet dann "alles digitale scheiße". Und unter Gitarristen gibt es jede Menge solcher Hohlfritten ;-)
Ich glaube, es ist insgesamt ein historisch gewachsenes Vorurteil, was zu dieser "anti-digitalen" Attitüde führt. Ich persönlich bin vollends überzeugt von den heutigen digitalen Möglichkeiten. Es gibt Dinge, die laufen u.U. über Frequenzen und deren Interferenz miteinander, die über dem Hörbaren abgebildet werden, aber ebenjenes beeinflussen, oder Streueffekte wie das jemand mit dem Mischpult aufgeführt hat, und diese Dinge werden ein wenig den "analogen" Vibe nach wie vor aufrechterhalten. Alles in allem jedoch marginale Unterschiede, die man vermutlich nur als sehr audiophiler Mensch hört. Ich höre sowas persönlich nicht, ich kann auch keine MP3 auf 320 kbps von einer WAV unterscheiden, bzw. achte da nicht drauf, weil mir der Speicherplatz wichtiger ist. ;-) Der Kompromiss ist nur dann ein Kompromiss, wenn man etwas vermisst. Tue ich bei digitalem meistens nicht.
Gutes Diskussionsthema, macht viel Spaß, die Antworten hier durchzulesen.