Wenn ich lese, was Du da schreibst, finde ich nur meine Ausgangsthese bestätigt.
Daß es um den Klangcharakter eines konkreten Exemplars eines konkreten Synthesizermodells geht?
Das ist Quatsch.
Für das grundlegende Prinzip ist es völlig egal, auf welchen Synthesizer es jetzt zutrifft, ob das jetzt Rick Wrights Minimoog, Joe Zawinuls Minimoog, Robert Görls ARP Odyssey, Benny Anderssons ARP Odyssey, einer von Vangelis' Yamaha CS-80 oder was auch immer geht. Das trifft grundsätzlich auf alle diese Modelle und Exemplare gleichermaßen zu.
Und es werden ja weiterhin Analogsynthesizer gebaut. Und glaub mir, die Eigenschaften analoger Synthesizer treffen auch auf jeden letzten Prophet-6 zu, der bei Thomann im Hochregallager liegt. Deswegen ist das Ding doch so beliebt. Es ist ja nicht nur analog, es ist im Gegensatz zu z. B. Prophet '08, Prophet REV-2 und dem neuen Prophet-5 (und auch den klassischen Prophet-5 Rev. 2 und 3) auch noch diskret aufgebaut, verwendet also zumindest im Synthesestrang keine integrierten Schaltkreise.
Das könnte man ohne weiteres im Musikhaus verifizieren: Erst eine beliebige volldigitale, samplebasierte Yamaha-Tischhupe anhören. Dann einen hybriden Waldorf Iridium. Dann einen volldigitalen, aber integrierten Sequential Prophet REV-2. Dann einen volldigitalen, diskreten Sequential Prophet-6.
Digital heißt erstmal nur 0 und 1. Ich kann mit Hilfe digitaler Technik analoge Vorgänge rechnerisch nachbilden.
Und genau das machen sogenannte virtuell-analoge Synthesizer, also an sich volldigitale Synthesizer, die aber den Sound analoger Synthesizer zu imitieren versuchen. Noch mehr findet man das in Software-Klonen konkreter analoger Klassiker, z. B. Minimoog-Klonen wie Creamware Minimax, Gforce Minimonsta, Native Instruments Monark oder Synapse Audio The Legend.
Das kann man über Formeln mathematisch perfekt machen, was du wahrscheinlich meintest. Muss man aber nicht.
Nein, was ich meinte, war digital perfekte Digitalität. Oszillatorwellenformen wie mit dem Lineal gezogen, eine ebensolche Filtercharakteristik, wo der Frequenzgang bis zur Cutoff-Frequenz exakt linear ist und genau ab der Cutoff-Frequenz hart und dann ebenso glatt kontinuierlich absinkt, null Artefakte, null Einstreuung von irgendwoher, null Verzerrung.
Man kann über Modelle und Stochastik alle Unzulänglichkeiten, die teilweise vielleicht sogar wegen ihrer positiven Klangauswirkungen geschätzt werden, nachbilden. Selbst dann würde es manchen noch "zu digital" klingen. Ich wüsste aber auch nicht, warum man alle Nachteile der Analogtechnik mit nachbilden sollte.
Aus dem gleichen Grunde, warum Synthesizer-Freaks heutzutage für eine gebrauchte kleine silberne Quietschkiste von 1981 (Roland TB-303), die damals $400 neu gekostet und Anfang '84 für $100 abverkauft wurde, die nur eine Stimme, einen Oszillator, null Klangspeicher und extrem abgespeckte Hüllkurven hat, sehr viel mehr Geld ausgeben als für einen nagelneuen, um titanische Größenordnungen mächtigeren Yamaha MODX.
Aus dem gleichen Grunde, warum es von dieser ach so eingeschränkten Quietschkiste schon zahllose Klone in Hard- und Software gibt und trotzdem immer wieder neue Klone auftauchen, die noch näher am Original sind.
Weil das einfach geil klingt.
Um es mal auf Gitarre zu übertragen: Analog ist der Vintage-Röhrenamp. Digital ist über die DI-Box direkt ins Pult.
Und irgendwann jittert es dann zu viel, ist nur noch out of tune oder leiert rum. Das würde kaum einer als "zu analog" bezeichnen. Dann stimmt man die Oszillatoren halt neu, wartet, bis sie gerade weit genug gedriftet sind, und fängt selbstverständlich wieder von vorne an, wenn es wieder zu viel wird...
Zuviel Jitter ist zumindest bei dem berühmten Synthesizerklassikern noch nie aufgetreten.
Zuviel Drift war ein Problem bei Moog bis 1971/72. Walter Carlos konnte
Switched-On Bach, eingespielt auf einem erweiterten Moog IIIc Modular, nur in Maximal-13-Sekunden-Häppchen einspielen und mußte dann nachstimmen. Kraftwerk mußten in ihrer Krautrockphase (also vor dem 1973er Rauswurf von Michael Rother und Klaus Dinger) nach jedem Stück Pause machen, damit Ralf Hütter seinen Moog Modular nachstimmen konnte. Das war eine Zeit, wo gerade die Moog Modulars (Markteinführung 1967) – weil sie eben keine Serienprodukte waren, sondern auf Bestellung gefertigt wurden – nicht mal Platinen hatten, sondern point-to-point verlötet waren. Wenn man ein Modul rausgeschraubt hat, hing hinten ein loses Bündel Halbleiterelemente dran. Erst 1971 wurden Platinen eingeführt.
Der Minimoog (Produktionsbeginn 1970) hatte bei seinen ersten gut 200 Exemplaren ein ähnliches Problem mit der Stimminstabilität. ARP hat sich darüber sogar lustig gemacht und damit geworben, daß ihre Synths sich nicht haltlos verstimmen. 1972 wurde die zweite Version der Oszillatorboards eingeführt, die stimmstabiler ausfiel und letztlich die Popkultur noch am meisten prägte. In den späten 70ern gab es ab der Seriennummer 10175 eine dritte Version, die noch stimmstabiler ist und häufig in älteren Minimoogs nachgerüstet wurde. Aber der "amtliche", "fette" Minimoog-Sound, den man aus vielen Produktionen kennt, das sind die alten Boards. Und die ganz wenigen verbliebenen Minimoogs mit der ersten Oszillatorversion sind begehrte Raritäten, weil sie von allen am fettesten klingen sollen – ungeachtet ihrer unzuverlässigen Stimmung. Aber diese Synths werden auch nicht mehr zu mehrstündigen Gigs getragen, sondern nur noch im Studio eingesetzt, wo sie auch nicht rockmusikmäßig durchgängig über die ganze Songlänge gespielt werden.
Man könnte mit entsprechendem Schaltungsaufwand sicher auch analog Oszillatoren und Filter bauen, die nahe am mathematischen Ideal sind. Selbst denen würde wohl noch analoger Klang attestiert werden...
Mitnichten.
Spannungsgesteuerte analoge Oszillatoren (VCOs), die aber als integrierte Schaltkreise ausgeführt sind (z. B. Curtis CEM3340), klingen schon ein ganzes Stück weniger "analog" als diskret aufgebaute VCOs. Wie gesagt, daß Prophet-6 und OB-6 diskrete Oszillatoren haben, ist ihr Unique Selling Point, denn damit klingen sie total "warm" und "fett" und "vintage". Es gibt wirklich Vintage-Verfechter, denen integrierte VCOs schon wieder zu "digital" und "kalt" klingen.
Selbst bei diesen Synths hat Sequential inzwischen einen Software-Regler eingebaut, der die Oszillatoren noch mehr zum (kontrollierten) Driften bringen soll. Dazu sei auch gesagt, daß mehr als 90% aller seit den 90ern from scratch gedrehten Synthesizersounds eben nicht nur einen Oszillator verwenden, sondern zwei ganz leicht gegeneinander verstimmte Sägezahnoszillatoren. Durch den Oszillatordrift verstimmt sich weniger der Sound als Ganzes, sondern es verändert sich kontinuierlich das Stimmungsverhältnis der Oszillatoren zueinander.
Dann gibt es noch Analogoszillatoren, deren Frequenz digital über einen Quarz geregelt ist: Digitally Controlled Oscillators (DCOs). Die sind immer noch vollanalog, aber ihre Frequenz hängt nicht mehr von analogen Komponenten ab. Damit sind sie noch präziser in der Stimmung als integrierte VCOs. Selbst klassische Synthesizer mit DCOs werden häufig verschmäht, weil sie lange nicht mehr so fett klingen wie die Klassiker aus den 70ern bis 1981 – bzw. nur gekauft, weil sie im Vergleich zu besagten Klassikern sehr viel billiger sind. (Ein 1985er Roland JX-10 mit DCOs kann mehr als ein 1981er Roland Jupiter-8 mit VCOs, kostet aber nicht mal ein Zehntel. Es gibt Neuwagen, die billiger sind als ein Jupiter-8.)
Möglicherweise wäre es machbar, mit 100% rein analogen Mitteln einen annähernd idealen Oszillator zu bauen. Sowas braucht aber keiner, weshalb der Aufwand keinerlei Rechtfertigung hat.
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Auf CPUs, DSPs und FPGAs werden VCOs auf dem Stand der frühen 70er Jahre emuliert.
Wandler zu überfahren acht nicht wirklich Sinn, aber auch dieses Sättigungsverhalten ließe sich analog wiederum simulieren...
Wandler zu überfahren, macht überhaupt keinen Sinn, außer man will gezielt eine typische Digitalzerre erzeugen. Und das kann man auch gleich in Software.
100% vollanaloge riesige, sauteure SSL- und Neve-Studiokonsolen von anno Tobak werden dagegen ständig in die Sättigung gefahren. Die haben aber auch Headroom von hier bis ultimo.
Ein „idealer“ Digitalsynth (nach ausschliesslich mathematischen Gesichtspunkten) könnte den beschriebenen Klangcharakter haben... aber weit häufiger treten diese Eigenschaften in Zusammenhang mit Schwächen in der Programmierung auf. In letzter Zeit bei einigen gehypten Modellen der oberen Preisklasse zu beobachten (imh ears).
Aber selbst der Digitalsynth der ersten Stunde (DX-7) fällt eher nicht in diese Kategorie.
Der DX7 ist ein Sonderfall. Das war einer der ersten bezahlbaren volldigitalen Synthesizer. Der arbeitet intern noch in 12 Bit und hat 10-Bit-D/A-Wandler vor den Klinkenbuchsen. Der hat tatsächlich einen Eigencharakter, das ist aber nicht analoge Wärme, sondern digitale Räude. (Es gibt auch analoge Räude: Korg MS-20.)
Man vergleiche mal einen DX7 (und ich meine nicht mal den DX7II, der schon komplett in 16 Bit arbeitet) mit Native Instruments FM8. Von der Funktionsweise her ist FM8 zu 100% ohne Unterschied (von Regelwertespannen vielleicht mal abgesehen, aber wahrscheinlich nicht mal das) ein Yamaha DX7 + Extras. Aber FM8 löst durchgängig höher auf als eine CD, und FM8 wird nie analog aufgenommen, während ein DX7 nicht digital aufgenommen werden kann.
Martman