Die Vorstellung, man müsste Avantgarde-Komponisten nur oft genug im Konzertsaal spielen, dann würden sie auch vom Publikum als "Genies" anerkannt werden, halte ich für verfehlt.
Schon seit 100 Jahren erzählen Verfechter atonaler Musik, dass sich die Zuhörer irgendwann an diese Art Musik gewöhnen würden und sie "auf der Straße pfeifen" werden.
Nein. Das erzählen sie nicht
seit 100 Jahren, das
erzählten sie
vor 100 Jahren. Sie haben sich damals eben geirrt. Ja und? Für mich ist jedenfalls das auf-der-Strasse-gepfiffen-werden kein wesentliches Kriterium fürs Kunstschaffen… Was viele heutige Komponisten schreiben erhebt nicht im geringsten den Anspruch zum Ohrwurm zu werden - das schliesst aber Kunst
genuss in dieser Musik keineswegs aus. (Nur als Anmerkung am Rande: Mir laufen durchaus auch mal Stücke von Stockhausen etc. nach, und ja, es kann sogar sein, dass ich etwas daraus Pfeiffe. Das hat aber nichts mit meinem eigentlichen Argument zu tun.)
Sind die Zuhörer einfach zu doof? Oder müsste man sich auch mal an die eigene Nase fassen...
Ich höre hier die ganze Zeit die Behauptung heraus, Komponisten würden dem Publikum für irgend etwas "die Schuld geben". Das mag ja schon mal vorkommen, entspricht aber bei weitem nicht meiner alltäglichen Erfahrung. Die meisten Komponisten die ich kenne haben kein Problem damit, dass sie weniger Hörer als Lady Gaga haben. Es
gibt ein Publikum für eine breite Menge posttonaler Musik - aber es muss ja nicht
allen gefallen. Das Bild des leidenden, sich vom Pöbel missverstanden fühlenden Elfenbeinturmkomponisten ist zwar ganz adrett, entspricht aber nicht unbedingt der Realität.
Ich finde den Vergleich zwischen Musik- und Literaturgeschichte ganz interessant: Atonale ("schräge") Musik ist musikalischer Dadaismus. Beide Kunstrichtungen eint die Absicht, alle hergebrachten Regeln auf den Kopf zu stellen.
Und was führt dich zu der seltsamen Annahme, dies sei die Absicht der atonalen Musik?
Da Letzteres heute aber Standard ist, ist die Trennung zwischen Komponist und Publikum vorgegeben.
"Das" Publikum gibt es nicht. Es gibt eine Vielzahl von Publiken (ja, ja, ich weiss dass etymologisch gesehen "das Publikum" eigentlich alle umfassen müsste...), die wiederum aus höchst unterschiedlichen Individuen bestehen. Es gibt kaum eine Musik die
kein Publikum hat. Und es gibt mit Sicherheit keine Musik die
alle Publiken hat.
Die Frage "Warum gibt es heute keine genialen Romanciers mehr" wird wohl kaum gestellt werden.
Ist es denn ein Verlust, wenn Menschen keine genialen Komponisten mehr sehen? Die Idee eines "genialen Komponisten" ist ohnehin sehr jung, und vor Beethoven kaum mit dem Verständnis der Bevölkerung von Kultur/Musik/Komposition in Einklang zu bringen. Wäre es denn schlimm, wenn das wieder verschwindet? Wenn wir wieder ein bisschen davon abkommen, einzelne musikalische Helden auf den Thron der Kunst auf alle Ewigkeit zu heben, ohne weiter hinzuhören und kritisch zu hinterfragen ihre Ergüsse als Gottesgaben anzunehmen und dabei so viel Schönes, Spannendes am Rande liegen zu lassen? Wäre es denn so schlimm, wenn die Musik zum Fokus würde, und nicht der Komponist?
Ich, jedenfalls, begrüsse jegliches Verschwinden genialer Komponisten (wie auch anderer genialer Menschen).
Übrigens nehme ich dir nicht ab, dass ein Kompositionsstudent an einem landläufigen Konservatorium nicht dazu gezwungen wird, atonal zu komponieren (ich kenne mich da aus eigener Anschauung aus). Wer tonal komponieren will, wird ans Tonsatzstudium verwiesen. Ein Tonsatzstudium sollte ohnedies gegenüber dem Kompositionsstudium erste Wahl sein, denn Komponieren ohne Handwerk und ohne Kenntnis der Tradition geht ins Leere.
Die Begriffe "atonal" und "tonal" werden ja auch so schwammig verwendet (und sind es wohl auch). Tatsache ist, viele neue Kompositionen, welche an eben diesen "landläufigen Konservatorien" entstehen haben natürlich die eine oder andere Tonalität. Nur eben keine funktionale Dur-/Moll-Tonalität. Und klar, wenn du einfach Brahms imitieren willst, dann werden dich die meisten Konservatorien wegschicken. Die Frage hierbei ist ob ein Komponist unreflektiert Techniken aus dem vorletzten Jahrhundert verwendet, und die geschichtlichen Vorgänge der ganzen Zwischenzeit bis heute einfach ausblendet, "als ob nichts gewesen wäre" - oder ob er einen kritischen Umgang mit gerne auch alten Elementen in einem zeitgemässen Umfeld pflegt. (Mit "zeitgemäss" meine ich hier nicht einen bestimmten Klangtyp, sondern eine bewusste Verortung in der gegenwärtigen Musiklandschaft.)
Du hast völlig recht: Eine Kenntnis musikalischer Tradition halte ich auch für wichtig. Nur: Tradition hört nicht bei Schönberg auf. Tradition ist, was durch Generationen getragen, entwickelt, hinterfragt wurde und wird. Tradition ist ein
Prozess, und nicht ein eingefrorener Zustand aus dem 19. Jh., der nun einfach wieder aus dem Keller geholt werden kann.