Der Vorteil des Internets ist:
Man bekommt eine Menge verschiedenster Informationen in kurzer Zeit.
Der Nachteil des Internets ist:
Man bekommt eine Menge verschiedenster Informationen in kurzer Zeit.
Im Sortieren, Aussuchen und sich auf das Wesentliche Konzentrieren liegt das Problem. Man wird mit allem Möglichen überschüttet, kann aber nicht alles auf einmal richtig einordnen. Man muss das finden, was wirklich wichtig ist und was man wirklich braucht, was man wirklich lernen will. Der Trick liegt in der Beschränkung, obwohl man sozusagen im Schlaraffenland der Informationen lebt.
Gestern endlich habe ich nun den Kanal von Robert Gjerdingen gefunden, in dem er seine Erkenntnisse für
Oxford University Press Schritt für Schritt zusammenfasst. Sinnigerweise heißt der Kanal „Child Composers“, weshalb das vermutlich nur jemand findet, der weiß, was das bedeuten soll. Es soll nämlich bedeuten, dass sich das auf die Waisenkinder aus Neapel bezieht, die im 18. Jahrhundert in den dortigen „Konservatorien“ (ich habe mich immer gefragt, warum Musikhochschulen heute so heißen, jetzt weiß ich es) zu Komponisten bzw. allgemein zu Musikern ausgebildet wurden.
View: https://youtu.be/fBbkviUkP3g?si=ExWAkbBMFirsuxMn
Eine interessante Analogie, das mit Sherlock Holmes. Ja, es ist Detektivarbeit, herauszufinden, worum es da wirklich geht. Das Problem hatten die neapolitanischen Waisenkinder damals nicht. Die wurden zehn Jahre lang Tag für Tag und Schritt für Schritt in Musik von Singen bis Komponieren unterrichtet, bis sie es konnten. Legt man eine 40-Stunden-Woche für zehn Jahre zugrunde, kommt man da auf über 20.000 Stunden Musikunterricht. Hätte ich auch gern gehabt.
Nachdem ich so viel zu barocker Improvisation und Partimento auf YouTube angeschaut hatte, hat der YouTube-Algorithmus zugeschlagen und mir diesen Kanal angezeigt. Falls es jemanden interessiert, sich damit zu beschäftigen, kann ich den Kanal nur empfehlen. Robert Gjerdingen ist heutzutage einer der großen Spezialisten auf dem Gebiet.
Es ist trotzdem immer noch schwierig, die Zusammenhänge so zu sehen, wie es für Barockmusiker selbstverständlich war, weil wir heute eher von der Funktions- und der Stufentheorie gehört haben, wenn wir überhaupt etwas über harmonische Zusammenhänge gelernt haben, und die barocke Herangehensweise eine ganz andere ist, aber gerade der Unterschied – nach dem ich so ausführlich geforscht habe – ist interessant.
Allerdings hatte Robert Gjerdingen als Professor sein Leben lang Zeit, darüber zu forschen. Das trifft für uns Normalsterbliche nicht zu. Deshalb ist Beschränkung das Gebot der Stunde. Wenn Gjerdingen das erklärt, schöpft er aus einem fast unermesslichen Wissensvorrat, den er sich über Jahrzehnte angeeignet hat. Wir, die wir etwas darüber lernen wollen, kratzen verglichen damit gerade mal an der Tür zur Bibliothek.
Für mich war es jetzt sehr interessant, auf dieses Thema gestoßen zu sein, nachdem ich lange immer nur etwas von II-V-I-Verbindungen und ähnlichem gehört hatte. Da denkt man dann fast schon, es gibt nur das. Aber es gibt mehr als das, und das ist sehr erfreulich. Das alles zu verstehen ist allerdings nicht von heute auf morgen getan, und man muss sich entscheiden, was man wirklich will, was das eigene Ziel ist. Womit man seine Zeit füllen will.
Mein Ziel ist sicherlich nicht, so gut wie Robert Gjerdingen zu werden oder wie John Mortensen, mich mit allem, was Harmonisierung und vor allem barocke Improvisation angeht, auszukennen oder das zu können. Mein Ziel war immer nur, jetzt noch im Rentenalter Klavierspielen zu lernen. Eine gute Methode zu finden, die mich dabei voranbringt, ohne mich zu langweilen oder zu überfordern. Überfordern vor allen Dingen in körperlicher Hinsicht, also Schmerzen zu vermeiden.
Eine Frau, die erst mit 65 angefangen hat zu spielen und dann 7 Jahre später immer noch bei den Stücken für das erste Jahr Klavierunterricht war, weil keiner ihrer Klavierlehrer meinte, sie könnte mehr, hat mich dabei mit ihrer Geschichte schockiert. Sie war sehr frustriert – kann man sich ja vorstellen –, dass sie nicht weiterkam, und wollte dann aufgeben. Ich weiß nicht, ob sie das getan hat, aber auf jeden Fall erschienen mir damals 7 Jahre ewig lang, um Klavierspielen zu lernen, und ich wollte nicht so enden wie sie.
Nun habe ich selbst schon fast zwei Jahre Unterricht hinter mir, und die sieben Jahre erscheinen mir nicht mehr so lang. Verglichen mit meiner noch verbleibenden Lebenszeit vielleicht, aber nicht in Anbetracht dessen, wie lange man tatsächlich dafür braucht, Klavierspielen zu lernen. Nach zwei oder drei Jahren ist man da immer noch Anfänger. Im Berufsleben schließt man nach drei Jahren seine Ausbildung ab und hat das meiste von dem, was man für seinen Beruf wissen muss, gelernt. Beim Klavierspielen ist man nach drei Jahren noch lange nicht so weit.
Es ist eine Reise, die bis zum Ende des Lebens dauern kann, denke ich jetzt. Aber das ist ja auch das Spannende daran. Es gibt immer wieder etwas Neues zu entdecken, wie es für mich jetzt die Waisenkinder aus Neapel und deren Ausbildung war. Davon hatte ich zuvor noch nie etwas gehört. Deshalb: Danke, Robert Gjerdingen, für diese Einblicke in die Welt der Musik. Eine ganz andere Welt als die heutige Welt der Musik, die wir kennen.