Vielleicht sollte ich noch ein bißchen anschneiden, wie sich das elektronische Musizieren an sich durch den Fortschritt veränderte.
Die Drummachines waren natürlich eine der ersten großen Revolutionen. Synthpop war zwar noch jung, aber es gab ihn schon. Als der Tubeway-Army-Sänger Gary Numan erstmals Kontakt zu Synthesizern hatte, führte das dazu, daß er die Tubeway Army auflöste – weil er erkannt hatte, daß man für elektronische Musik keine Band mehr braucht und alles selber machen kann. Letztlich holte er sich aber trotzdem noch ehemalige Bandkollegen dazu, weil gewisse Dinge einfach noch nicht so gingen, wie man es gern gehabt hätte.
Wie gesagt, elektronische Drums waren Ende der 70er grenzwertig. Programmierbare Drummachines waren selten und teuer, und allen Drummachines war gleich, daß sie sich nicht wie ein echtes Schlagzeug anhörten. Einige machten letzteren Punkt damals schon zum Konzept, aber wenn man nur Presets hatte, mußte man da immer drumrumkomponieren und -arrangieren, bzw. man brauchte noch einen echten Schlagzeuger, also dann doch wieder eine Band. Und der Aufwand, Drums per Synthesizer zu machen, war damals noch gigantisch, zumal es noch keine solchen multitimbralen Monster wie den Access Virus gab.
Das Erscheinen der neuen Drummachine-Generation 1980 machte das aber alles obsolet – wenn man das Geld hatte. Wenn nicht, mußte man noch das eine oder andere Jahr warten, aber dann war man auch an der Reihe. Jedenfalls konnte das Wort "Synthpop" endlich wortwörtlich genommen werden. Nichtelektronische Instrumente brauchte man dafür nicht mehr, auch nicht mehr die, die sie spielten. Die Zeit der Synthpop-Duos war angebrochen: Eurythmics, Yazoo, Erasure, Blancmange, Soft Cell usw. Sie alle hatten gemeinsam, das ein einziges Mitglied des Duos für das ganze instrumentale Backing verantwortlich war. Das war jetzt endlich technisch möglich – und noch dazu einfach, weil man kein Multiinstrumentalist mehr sein mußte.
Natürlich gab es weiterhin größere Gruppen im Synthpop. Bands wie Japan, Duran Duran, Ultravox, A Flock Of Seagulls oder Icehouse hatten immer noch Rockband-Anleihen, während z. B. Depeche Mode oder nach wie vor Kraftwerk mehrere Elektroniker beschäftigten, was sich bei Livegigs auszahlte: Zwei oder drei Leute an Synthesizern sahen auch dann, wenn sie unmöglich alles live spielen konnten, überzeugender aus als nur ein Leut.
Umgekehrt nahm allerdings auch die Zahl der Solokünstler zu, die überhaupt keine Mitstreiter mehr brauchten. Prince baute sein Debütalbum meines Wissens komplett alleine, ebenso später das Doppelalbum Sign "☮" The Times. Steve Winwood wurde ebenso zum Selfmade Man wie Peter Gabriel, der ja einer der ersten Fairlight-Eigentümer war. Das Fairlight CMI machte ja auch Kate Bush zu einer der ersten Popmusikerinnen, die ihre Backings selber machten.
Auch hier zeigte sich der technische Fortschritt: Natürlich konnte man schon vorher z. B. erst die Drummachine auf ein Mehrspurband aufnehmen und dann die anderen Synthspuren nach und nach per Hand einspielen. Als aber das Sequencing leistungsfähiger wurde und es vor allem möglich wurde, mehr und mehr Geräte an denselben Sequencer zu hängen bzw. Sequencer miteinander zu synchronisieren, wurde das deutlich vereinfacht, weil man weniger per Hand spielen mußte und daher weniger Takes brauchte.
Mitte der 80er stand dann MIDI zur Verfügung, eine digitale Steuerschnittstelle, die endgültig nicht mehr herstellerspezifisch war. Damit konnte man Geräte der verschiedensten Fabrikate miteinander verbinden, und weder mußte man sich auf Geräte eines Herstellers (z. B. Oberheim, die einen hauseigenen Steuerbus hatten) beschränken noch einen der sauteuren Alleskönner Fairlight CMI oder Synclavier verwenden. In dieser Zeit noch elektronische Instrumente ohne MIDI rauszubringen, war kaum mehr zu verantworten.
Fortschritte in der Digitaltechnik brachten dann noch zum einen immer bessere und ausgefuchstere und zum anderen immer bezahlbarere Sequencer mit sich. Die Folge war allerdings, daß immer weniger per Hand eingespielt und immer mehr direkt im Sequencer einprogrammiert wurde mit entsprechend absolut präzisem Timing (zumindest im Rahmen dessen, was die magere Bandbreite von MIDI zuließ). Um einen Sequencer zu programmieren, mußte man ja nicht mal mehr Keyboard spielen können.
So wurde elektronische Musik ab ca. 1984 auf einen Schlag immer perfekter. Damit verlor sie aber auch ein bißchen ihre Seele, zumal auch die Limitierungen der Geräte immer weniger wurden. Das war die eine Todesursache des Synthpop. Die andere war, daß vollelektronische Backings inzwischen so kostengünstig zu machen waren, daß so ziemlich alles, was sich nicht Rock oder Metal nannte, bis auf den Gesang fast oder tatsächlich komplett elektronisch war – bis hin zur fast kompletten R&B-Schiene. Der Synthpop hatte sein Alleinstellungsmerkmal verloren, weil jetzt fast alles elektronisch war.
Das Ganze gipfelte dann ab ca. 1986 in der regelrecht am Fließband produzierten Musik aus Stock/Aitken/Watermans "Hit Factory". Dieter Bohlen hatte ja bewiesen, daß es sich nicht mehr lohnt, jedem Song einen eigenen Charakter oder auch nur großartig eigene Sounds zu verpassen, und die drei Briten haben das Ganze auf die Spitze getrieben und noch um einiges mehr an Acts produziert und mit austauschbaren Backings versehen als der Poptitan aus Tötensen. Das hatte als Nebeneffekt, daß in den Charts wieder mehr Solosänger auftauchten, die eben nur Sänger waren – Backing und Produktion wurden von anderen Leuten runtergekurbelt.
Was passierte zum Ende des Jahrzehnts hin – außer daß synthesizerlose Musik auf einmal wieder sehr viel begehrter war und aus dem Underground hervorgespült bzw. regelrecht neu erfunden wurde?
Erstens führten immer neue Technologien in der Musikelektronik zu immer schneller veraltenden Geräten. Das führte zu einem immensen Gebrauchtmarkt mit rapide fallenden Preisen. Das wiederum führte zu einer noch stärkeren Demokratisierung der elektronischen Musik, denn wer mit eigentlich veraltetem Gebrauchtequipment noch was anfangen konnte, konnte für relativ wenig Geld in die Produktion elektronischer Musik einsteigen. Genau das betraf drei DJs in Chicago, die sich ihr Equipment in Thrift Stores und Pfandhäusern für ein paar Hunderter zusammenkratzten – und damit 1987 Acid House erfanden, aus dem 1988 Techno wurde. Unterm Strich führte das alles also dazu, daß die EDM-Welle richtig losrollte.
Zweitens reagierte der R&B auf seine zunehmende Elektronisierung, aber nicht so, wie man vielleicht erwartet hätte. Man kehrte nicht wieder zu den Band-Besetzungen der 70er mit fetten Hörnersektionen zurück. Statt dessen sagte man: Hey, wir produzieren R&B doch sowieso schon so wie Hip-Hop, also mehr oder weniger vollelektronisch – dann laßt uns doch auch Stilmittel aus dem Hip-Hop übernehmen. Dann wird der R&B gleich wieder viel cooler und "schwärzer" und groovet auch mehr als das weichgespülte Zeugs von vor ein paar Jahren. Der ganze Urban-Style-Kram war damals ja sowieso total in. Am Anfang des Jahrzehnts war moderner R&B noch sowas wie "Cherish" von Kool & The Gang – auf einmal war er sowas wie "Straight Up" von Paula Abdul.
Und drittens schien es nostalgische Gefühle für die elektronische und instrumentale Musik von vor Mitte der 80er zu geben bzw. solche, die immer noch in dem Stil gemacht wurde. Da passierte also etwas Verrücktes: Solo-Elektroniker versuchten, ihre teuren Geräteparks zu versilbern, indem sie in reinen Ein-Mann-Projekten diese Musik coverten und aus den Covers Alben zusammenstellten. Und das waren überwiegend keine großen Namen, viele waren mehr oder weniger Hobbyisten, die Homerecording betrieben. Das zeigte, was 1988 schon möglich war.
Jedenfalls war einer davon Ed Starink, der schon seit Anfang der 80er aktiv war, teilweise mit Mitmusikern, teilweise solo, aber nur leidlich erfolgreich. Der startete ein neues Projekt namens Star Inc. Während andere sich anfangs mehr am Synthpop aus den Charts orientierten, coverte er vor allem reine Instrumentalmusiker und die, die in den 70ern schon aktiv waren: Vangelis, Jarre, Kitaro, Sakamoto, Kraftwerk, Moroder, Faltermeyer, Hammer, Art Of Noise, Yellow Magic Orchestra usw., aber auch Instrumentals vom Alan Parsons Project.
Dank reichlich TV-Marketing durch den Publisher Arcade wurde seine Synthesizer Greatest zumindest in Deutschland zu einem der erfolgreichsten Alben überhaupt in der damaligen Zeit. Das lag allerdings wohl auch daran, daß es einerseits einen Bedarf an Compilations solcher Instrumentalmusik an sich gab und es andererseits vielen Käufern überhaupt nicht klar (oder völlig egal) war, daß das alles Covers waren und nicht die Originale.
So überrascht es wenig, daß Star Inc. einiges an Nachahmern hatte, die ihrerseits Sammlungen von Elektronik-Covers rausbrachten, deren Tracklists zu 80–90% mit der ersten Synthesizer Greatest deckungsgleich waren. Ich weiß aber nicht, wieviele davon schon vorher elektronische Musik gemacht und wieviele eigens dafür damit angefangen hatten. Fakt ist aber, daß 1992 sogar Michiel van der Kuy, eigentlich eine Hälfte des Spacesynth-Duos Laserdance, so ein Album rausbrachte – unter dem Namen Koto. Das wiederum war eigentlich das Italo-Disco-Projekt von Anfrando Maiola und Stefano Cundari, aber weil die ein paar Jahre nichts mehr als Koto gemacht hatten, ließ ZYX Records van der Kuy den Namen benutzen und damit Geld machen.
Allerdings war da die Zeit dieser "Compilations" (waren ja eigentlich gar keine) schnell wieder vorbei. Außer Star Inc. brachten meines Wissens alle nur eine Scheibe raus, weil sie schnell als Star-Inc.-Abkupferer entlarvt waren – die haben nämlich noch nicht mal die Originale gecovert, sondern die Star-Inc.-Versionen. Und auch Star Inc. taugte höchstens als Einstiegsdroge, denn die, die begriffen, daß das nur Covers waren, wandten sich dann doch lieber den Originalen zu, die sie über diese Covers überhaupt erst kennengelernt hatten.
Martman