Ich musste mir immer alles selber zusammensparen, obwohl meine Eltern im Vergleich zu meinen Freunden eher zu den Besserverdienern gehörten. Meine Freunde bekamen teilweise alles von ihren Eltern geschenkt, ich nicht, fand das natürlich immer ungerecht. Dafür weiß ich mein Equipment auch zu schätzen. In der Woche Zeitungen austragen, in den Ferien auf dem Bau jobben - so hab ich mir das alles mühsam erarbeitet, denn so war das früher.
Ich glaub, ich kann hier alle toppen. Zu Weihnachten '86 bekam ich eine elektronische Orgel geschenkt. Ich meine, da kostete eine italienische Versandhausorgel der Einstiegsklasse schon Viel Geld™ – oder hätte gekostet, wenn es damals sowas noch gegeben hätte. Aber für mich gab's was Japanisches, und die Dinger waren an sich schon mal teurer als Italo-Orgeln. Noch dazu war das Ding Oberklasse.
Zu dem Zeitpunkt spielte ich erst drei Jahre. Es war trotzdem schon meine zweite Orgel fällig, weil die erste, die ich '84 nach nicht mal einem Jahr Orgelspielen mitfinanziert hatte, ihren Geist aufgegeben hatte. Eine größere Orgel sollte es sowieso sein, weil ich aus der noch mehr rausholen konnte (und wahrscheinlich auch, weil meine Eltern dann noch besser mit mir strunzen konnten).
Nun lag es aber in der Natur elektronischer Musikinstrumente, daß sie gerade in den 80er Jahren rasant veralteten. Keine vier Jahre später hatte Technics derart hochgezüchtete Spitzen-Arranger rausgehauen, daß ich auf meine Orgel gar keinen Bock mehr hatte, weil die mir von den Möglichkeiten her nicht mehr genügte. Ich traute mich aber nicht, meinen Eltern das zu sagen. Vor allem mein Vater hatte wohl geglaubt, die Orgel sei eine Anschaffung für die nächsten Jahrzehnte. Aber gut, meine Eltern verstanden sowieso nicht viel vom Musikmachen – und hätten es auch nicht eingesehen, daß ihr Sohn mal mehr von etwas versteht als sie, bis Ende '91 der erste Computer in der Familie ankam und letztlich ich der einzige war, der ihn benutzte. (Daß ich auch der einzige in der Familie war, der ohne Anleitung einen Videorecorder programmieren konnte – geschenkt.)
Zugegeben, die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, war sowieso vor allem damals kulturelle und vor allem musikkulturelle Wüste. Welle Nord a.k.a. Radio Sterbehilfe hatte gefühlt mehr Hörer als alle anderen Radiosender zusammen. Das Verhältnis wäre noch schlimmer gewesen, hätten nicht auch einige junge Leute eigene Radios gehabt, wo sie bestimmen konnten, was gehört wurde. Aber diejenigen, die wirklich was von der großen weiten Musikwelt mitbekamen, hauten letztlich fast alle nach dem Ende der Schulzeit in Großstädte ab.
Der Rest ergötzte sich wöchentlich an der ZDF-Shitparade – die war zwar nach Hecks Abgang von Viktor Worms komplett umgeschmissen worden, um endlich auch Modern Talking einladen zu können, aber man sah sie weiterhin, weil das hatte man ja schon immer so gemacht. Live-Musik kannte man praktisch nur von Alleinunterhaltern – die lokalen waren so scheiße, daß die besseren Musiker, die über größere Distanzen anreisten, nicht nur Touristen anlockten, sondern auch Einheimische –, dem kirchlichen Posaunenchor, der aber auch wirklich noch beim letzten lokalen Blechbläser die Spielweise versaute, und den seltenen Auftritten der grottenschlechten Schulband des lokalen Gymnasiums. Gute Live-Musik kannte man also fast gar nicht.
Das dürfte wohl auch der Grund gewesen sein, warum so viele Kinder Orgel bzw. später Keyboard lernen wollten. Die einzigen nennenswerten musikalischen Vorbilder waren entweder Alleinunterhalter oder andere Kinder/Jugendliche, die auch Orgel bzw. Keyboard spielten. Sonst gab's da ja nix. Zur nächsten Live-Musiklocation fuhr man wahrscheinlich mindestens eine Stunde, wohl eher anderthalb, mit dem Auto und dann auch über mindestens eine Kreisgrenze. So weit mußte man auch fahren, wenn man Musikequipment kaufen wollte, das keine Heimorgel war, und als die weg vom Fenster waren, bekam man gar nix mehr. Es war ja sogar schwierig, Gitarristen zu finden. Oder überhaupt bandtaugliche Musiker.
Ich glaub ja, was dann Anfang der 90er passierte, reichte aus, um zumindest ein bißchen für Veränderungen zu sorgen. Die wohl erste Punkband der Gegend, eine schulische Konzertreihe an den Jahresenden '90 bis '92, zu der auch Bands von Schulen vom Festland dazugeholt wurden, und '92 und '93 dann die Auftritte einer gewissen irischen Familienformation. Die waren zwar vor allem stilistisch mehr als kontrovers, aber bis dahin hatte ja noch nie jemand sowas gehört – und trotz allem waren die musikhandwerklich wohl besser als alles, was es bis dahin in der Gegend gegeben hatte. Wahrscheinlich war das auch wieder verstörend. Aber es war wohl auch inspirierend, denn in den 90ern hatten auf einmal mehr junge Leute Bock auf Musikmachen, weil die sich letztlich auch gegenseitig inspirierten.
Martman