Was bedeutet: jeder Musiker, der keinen Zugang zu Musiktheorie hat, ist ein mieser Musiker?
Ich glaube nicht, dass Du das so meinst.
Mit der Einschätzung liegst Du völlig richtig. Weil aus meiner Aussage nicht automatisch eine Umkehrung zu machen ist. Und ich eine Aussage über Musik treffe, nicht über MusikER.
Ein Musiker mit viel Feeling, der keine Ahnung von Theorie hat (wie der Bassist in meinem Beispiel) ist ein Musiker, dessen Potential zum grössten Teil brachliegt. Wenn ein Musiker viel von Theorie versteht, aber nicht empfindungsfähig ist: dito.
Mir ist es auch zu brutal und zu zynisch, zwischen "guten" und "schlechten" Musikern zu unterscheiden. Über Musik zu urteilen ist unproblematisch. Aber Menschen danach zu beurteilen, was sie in einem bestimmten Bereich (!) zu einem bestimmten Zeitpunkt (!) leisten, das geht mir ein wenig gegen den Strich.
Es ist auch wenig produktiv, sich darüber zu unterhalten, was manche Musiker alles NICHT können oder auf welche Arten man beim Musizieren scheitern kann oder "trotzdem" erfolgreich ist. Das würde dann ein sehr langer Thread werden. Man kann doch auch nicht die Notwendigkeit eines Wissens daran bemessen, ob es Leute gibt, die dieses Wissen mißbrauchen. Das sagt etwas über die Menschen aus, nicht über das Wissen:
Wenn man sich aber von vorn herein auf Musiktheorie stürzt und darin das Allheilmittel für die persönlichen musikalischen Fähigkeiten sieht, dann verpasst man vielleicht die Chance, das eigene musikalische Empfinden zu entdecken, zu fordern und weiterzuentwickeln.
Wer glaubt, das gibt's nicht: werft mal den einen oder anderen Blick in unser Musiktheorie-Forum. Da gibt es threads, die Musik zu einer Ansammlung mathematischer Gleichungen machen.
Experten warnen: zuviel Musiktheorie schadet ihrer musikalischen Gesundheit?
Nur weil es DIR und MIR wenig Lust bereiten, Musik quasi mathematisch zu analysieren, kann man doch anderen nicht die Freude daran absprechen.
"Das versteh ich nicht, also muss es gefährlich sein!" ?? Man muss doch vor vertieften Kenntnissen der Musiktheorie keine Angst haben.
Daß andere Menschen Musik anders erleben, als ich es tue, wertet doch mein Musikverständnis nicht ab. Die werden uns schon nicht den Schniedel abschneiden.
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Und selbst wenn einer meint, mit ein paar lässig hingeworfenen fachlichen Erläuterungen mein Gestümper kommentieren zu müssen: gute Gelegenheit, eine Erläuterung zu verlangen und was dazuzulernen. Und weiterzustümpern.
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Das sind die Punkte, in denen ich Dir widerspreche:
1) Theoriekenntnisse behindern nicht. Auf keinen Fall! Sie erweitern in jedem Fall die musikalischen Möglichkeiten. Ja, es gibt Musiker, die NUR die theoretische Seite der Musik kennen und damit ihre Möglichkeiten auf andere Weise beschränken. Das muss aber für die kein Problem sein. Und für mich schon gar nicht.
2)Ich gehe nicht davon aus, daß jeder Mensch Musik so intensiv FÜHLEN kann, wie ich es tue und du wahrscheinlich auch. Soll ich denen das Recht absprechen, sich Musik so zu erschliessen, wie es IHNEN entspricht? Der intellektuelle Weg ist nicht besser oder schlechter als der sinnliche. Nur anders. Und der Rest ist Geschmackssache.
3) Meine sinnliche Erfahrung von Musik wird nicht abgewertet, weil andere Musiker Musiktheorie für wichtig halten. Sie hat einen Wert für MICH: B.B. King macht mir mit einem einzigen Ton eine Gänsehaut, Edith Piaf bringt mich zum Heulen. Dream Theater finde ich zum Kotzen öde und Zappa nervt mich (meistens). Aber das ist MEIN Problem. Wenn andere das anders sehen, kann ich damit gut leben.
4) Es gibt KEIN sinnvolles Argument, Musiktheorie NICHT zu lernen, wenn man die Möglichkeit dazu hat. Daß andere sie nicht gelernt haben, ist kein Argument. Jede Form von Wissen, das man sich aneignet, ist ein Gewinn. Immer.
Es kann nicht darum gehen, was andere Musiker können oder nicht, sondern, was ICH mir als sinnvolles ZIEL setzen kann.
Wenn mir ein Anfänger die Frage stellt, was er alles braucht um Musiker zu werden, würde meine Antwort eventuell etwa so aussehen:
So wie ich Musik verstehen, hat sie drei Dimensionen. Eine handwerkliche/ körperliche , eine theoretische/ intellektuelle und eine emotionale/spirituelle/sinnliche. Versuche, Dir die Musik in all diesen Dimensionen zu erschliessen, soweit es DIR möglich ist. In welcher dieser Dimensionen du dich wohlfühlst und welche für dich schwierig wird, ist eine ganz individuelle Frage. Es gibt Menschen, die Musik intensiv fühlen und instinktiv verstehen und anderen fällt es schwer, Botschaften über den Klang hinaus wahrzunehmen. Es gibt Menschen, die ihr Instrument sehr leicht virtuos beherrschen lernen und andere kommen nie über ein bestimmtes Level an Fingerfertigkeit hinaus. Es gibt Menschen, die Musik detailliert verstehen und analysieren können und andere tun sich schon mit dem Quintenzirkel schwer.
Nur absolute Ausnahmetalente beherrschen alle drei Bereichen gleichermassen. Die meisten von uns beherrschen eine oder zwei dieser drei Ebenen recht gut und eine oder zwei recht wenig.
Es gibt individuelle Unterschiede darin, wie man sich Musik erschliesst. Wenn man Musik vollständig verstehen will, sollte man es zunächst auf allen denkbaren Wegen versuchen. Der intellektuelle Weg und der körperliche Weg sind die einfachsten. Das kann man üben und trainieren. Der emotionale Weg ist der schwerste, weil das sehr viel mit Persönlichkeit, Charakter, Erziehung und Lebenserfahrungen zu tun hat - alles Dinge, die ausserhalb der Musik stattfinden, sich aber in der Musik ausdrücken.
Lerne so viel davon, wie es DIR möglich ist. Die Grenzen setzt dein Körper, Dein Intellekt und Deine Empfindungsfähigkeit. Vernachlässige aber nichts davon. Versuche, Dein persönliches Gleichgewicht zu erreichen. Das ist kein Ziel, das ist ein Weg. Man ist ständig auf der Suche, man kommt nie an. Je mehr Du auf diesem Weg mitnimmst, desto befriedigender wird die Musik für dich werden. Du zahlst dafür nur einen Preis: schlechte Musik wird für dich zur Qual werden. Aber die Erfahrungen, die Du machst, werden Dein Leben bereichern. So oder so.