Zu sagen, äolisch/melodisch/harmonisch Moll seien keine Tonleitern, finde ich auch irgendwie ... hm ... da fehlt mir das Wort. Da müsste man erstmal um-
definieren, was eine Tonleiter ist.
Du musst bitte das Zitat von de la Motte:
Moll existiert nicht als Tonleiter, sondern als Vorrat von 9 Tönen (Dur: 7 Töne)
in seinen historischen Kontext stellen (wie es auch in seiner "Harmonielehre" eingebettet ist). Ganz grob lässt sich sagen, dass sich gegen 1600 das Dur-Moll-tonale System in der Breite in der Musikwelt etabliert hat, und die Bipolarität Dur-Moll das modale System mit seinen verschiedenen eigenständigen Modi zwar nicht komplett, aber doch weitgehend abgelöst hat - und im weiteren Verlauf immer weiter ablösen wird.
Das bedeutet, dass wir die Tonleitern im Kontext zunächst einmal der Musik der Epochen des Früh-, Hoch-, und Spätbarock betrachten müssen. Und bei der Analyse irgendeiner Arie aus dieser Zeit (Arie deshalb, weil deren Melodiebildungen für Gesangsstimmen komponiert sind und sie daher sozusagen exemplarisch für Melodien dieser Epochen angesehen werden können) wird man eine vollständig in ihrer Tonfolge abgesungene Tonleiter kaum je finden. Tonleiter-Ausschnitte - jede Menge, Dreiklänge, Schritte, Sprünge - alles da. Aber eine komplette Tonleiter als Melodie ist recht selten (ich kenne gar kein Beispiel, allerdings habe ich keinen auch nur annähernd kompletten Überblick über die Arien dieser Zeit).
Selbst in den späteren Epochen, Frühklassik, Klassik, kenne fallen mir keine Beispiele von Arien oder Liedern ein, aber auch Instrumentalthemen, die als
Melodie oder
Thema eine komplette Tonleiter bringen. (Die Tonleiter und Dreiklangs "rauf-und-runter-Dudeleien" der Virtuosen (Solo-)Konzertmusik bleibt bei dieser Betrachtung außen vor, aber diese Girlanden beabsichtigen ja auch weniger einen melodischen als virtuosen Effekt.)
Faktisch wird die Tonleiter damit aus der Sicht der Analyse zu nicht mehr als einer Sammlung von Tönen, die sozusagen als Bausteine oder "Baukasten" für die Komposition zur Verfügung stehen. Wenn nicht mehr als die konkreten 7 Töne einer "natürlichen" Molltonleiter Verwendung finden, kann logischer- und korrekterweise gesagt werden "Das Stück X steht in x-natürlich-Moll". Tatsächlich wird sich unter den Moll-Melodien dieser Zeit wohl eher keine finden lassen, die nur "Natürlich Moll" als Tonvorrat benutzt. Und genau darum geht es: Moll-Stücke, bzw. Moll-Arien (nicht nur) dieser Zeit nutzen normalerweise (fast) immer die 9 Töne des "kompletten Moll". Analytisch betrachtet muss dann auch folgerichtig gesagt werden "Das Stück nutzt alle Töne der drei theoretisch unterschiedenen Moll-Skalen ´natürlich´, ´melodisch´ und ´harmonisch´ zusammen". So formuliert wird die Trennung aber absurd.
Noch folgerichtiger finde ich daher die Betrachtungsweise von de la Motte, der ich daher auch gerne und mit Überzeugung folge. Die Tonleitern sind analytisch betrachtet eben nicht mehr als ein "Tonvorrat".
... die größtenteils pentatonischen Melodien ... [der Volkslieder]
Nach der umfassenden allgemeinen Definition des (später erwähnten) Wikipaedia-Links, derzufolge alle Skalen mit 5 Tönen "pentatonisch" genannt werden, stimmt diese Aussage natürlich. Und rein sprachlich ist es ja auch korrekt, denn "pentatonisch" heißt zunächst in der Tat nicht mehr als "5 Töne".
Im Sinne der Anmutung, die mir von Ausdruck her typische pentatonische Melodien geben, mag ich "Old Mc Donalds" oder "O Susanna" nicht als pentatonisch empfinden. Zu deutlich ist deren Dur-Anmutung, auch wenn sie nicht alle 7 Töne der Dur-Tonleiter benutzen.
Im Übrigen sparen sehr viele (Dur-)Kinder- und Volkslieder die 7. Stufe als Melodieton aus (der ist melodisch nämlich nicht ganz unkritisch). Sie können und müssen aber trotz ihres "hexatonischen" Tonvorrats als Dur-Melodien eingeordnet werden. Spätestens wenn sie (in typischer Weise) harmonisiert werden, erscheint der 7. Ton als Terz der Dominante.
Wenn ich modal denke, dann kommt z. B. D Dorisch von der 2. Stufe der C-Dur Tonleiter und ist nicht eine Alteration von D Moll oder die Teilmenge einer halbchromatischen Supermolltonleiter.
Wie
@turko schon erwähnte, entspringt dieses Denken dem Gebrauch von Eselsbrücken. Die eine betrachtet z.B. Dorisch als die Skala, die sich ergibt, wenn man eine Dur-Tonleiter vom 2. Ton aus spielt. Die andere leitet Dorisch vom "natürlich Moll" ab, indem die Sexte hochalteriert wird. Als Merkhilfe und Eselsbrücke finde ich beides als durchaus hilfreich. Historisch ist das aber falsch, da das Dur-/Moll-tonale System sich aus dem modalen System entwickelt hat und daher zeitlich deutlich nach der Modalität liegt (das schreibst du ja auch selber). Die verschiedenen Modi standen ursprünglich (und Jahrhunderte lang) als jeweils eigenständige Skalen mit je eigener melodischer Qualität innerhalb des modalen Systems mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander.
Nein, ich sehe es genau anders herum: D Dorisch entstammt der C-Dur Tonleiter und das ist keine Eselsbrücke.
Ist aber nicht eben
diese Aussage
eher der Versuch einer ideologischen Umdeutung, um mit Gewalt alles einer Dur-Moll-Tonalität unterzuordnen,
???