Hallo zusammen,
jetzt fängt es an spannend zu werden (danke Mathias und Hagenwil). Wie Ihr ja sicher inzwischen mitbekommen habt, ist mir Begriffsklauberei ein Gräuel. Insofern finde ich Diskussionen wichtig, die sich mit Begriffen und Definitionen befassen - nicht um diese zu zementieren, sondern um sie - im Gegenteil - zu hinterfragen, erweitern und eventuell ganz über Bord zu werfen. Inzwischen entwickelt sich dieser Thread lustig weiter, und ich weiß gar nicht so recht, wo ich überall einhaken kann, soll und will (und wo Ihr die Zeit hernehmt, so oft eingeloggt zu sein, ist mir schleierhaft). Leider entwickelt sich die Diskussion auch so, wie ich es befürchtet habe - zu einem Glaubenskrieg der Standpunkte. Vielleicht kann ich ja ein wenig dazu beitragen, dass das Ganze etwas weniger aufgeregt gesehen wird.
Fangen wir daher von hinten an (es wäre wahrscheinlich nicht schlecht, wenn Ihr Euch alle nochmal "Crystal Silence" anschauen/-hören würdet). Hagenwil (wer immer Du bist, da ich mich voller Zerknirschung mit dem besten Willen nicht mehr daran erinnern kann, wann wir uns getroffen haben; grundsätzlich habe ich es gern, wenn ich weiß, mit wem ich es zu tun habe; insofern wäre ich Dir dankbar, wenn Du Dein Pseudonym lüften könntest; wir sind zu nah am RL dran für Spielchen) - in Deinem letzten Post hast Du Deine Sichtweise von Crystal Silence beschrieben. Mit der Skalenzuordnung bin ich natürlich grundsätzlich einverstanden (bei B-7 müssten wir diskutieren - für mich ist das G in der Melodie davor und danach zu stark, als dass ich B-7 Dorisch höre). Auch mit der Einteilung in tonikale und nicht-tonikale Bestandteile habe ich keinerlei Probleme. Nur mit dem Wort Ebene habe ich so meine Schwierigkeit. Anders als bei Flamenco Scetches, wo man sehr viel Zeit in einer Farbe (Klangfläche) verbringt, kommt bei CS eine zeitliche Komponente ins Spiel, die für die Wahrnehmung meines Erachtens sehr wichtig ist.
Da die Akkordfolge (trotz Balladentempo) recht aktiv ist, höre ich nicht Einzelklänge (wie bei Flamenco Scetches) sondern Beziehungen. Nun ist es aber nicht so, dass diese Empfindungen die Sprache der Modalität aushebeln (wie gesagt - ich bin ja mit Deiner Skalenzuordnung prinzipiell einverstanden). Was mir aber fehlt, ist das Bekenntnis zu A-7 als Tonika - denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Du A-7 nicht als I hörst (bitte kommentieren!). Wenn Du aber A-7 als I hörst, dann wirst Du E-7 und Fmaj7 zwar als Teil der tonikalen Ebene wahrnehmen (hier ist Ebene nicht ganz so schlecht, weil die Passage eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt), da sie natürlich dasselbe Tonmaterial beinhalten und damit diatonisch zueinander sind (A-7 Äolisch = E-7 Dorisch = Fmaj7 Lydisch).
Da ich aber A-7 als I wahrnehme, empfinde ich A-Äolisch als Zentralmodus. Das bedeutet wiederum, dass meine Ohren E-7 und Fmaj7 als sekundäre Bestandteile der Grundfarbe einordnen. Erstes Fazit: ich höre eine übergeordnete modale Farbe (tonikal), höre aber gleichzeitig auch Stufenbewegung innerhalb dieser Farbe (I-7, V-7, bVImaj7).
Aufgrund der Leittönigkeit innerhalb des Tonmaterials der Grundfarbe, höre ich aber nicht nur Stufen, sondern auch Spannungsbeziehungen. Ich höre einen ruhenden Anfangsklang (wobei man darüber diskutieren könnte, wie ruhend ein Klang tatsächlich wirkt, wenn die b7 in der Melodie liegt). Und dann höre ich zwei Klänge, die sich von diesem Ruhepol immer stärker entfernen (E-7 ist als V-7 schon recht instabil; Fmaj7 als bVImaj7 ist wegen der Leittonbewegung b6-5 und der #11 im Sound besonders instabil). Beide Akkorde erzeugen ein Spannungspotenzial, das wieder zur Tonika zurück führen will. Zweites Fazit: ich höre die Passage funktional weil kadenziell.
Wenn man den B-7 anhört, dann ist er deutlich als II. Stufe einzuordnen (für Dich - Hagenwil - vielleicht deshalb als dorische Farbe, weil man traditionellerweise einen -7-Akkord auf der II. Stufe Dorisch spielt; aber - wie gesagt: das G in der Melodie spricht für Äolisch; ich selber habe kein Problem mit einer Äolisch gespielten II. Stufe). Wichtig für mich ist, dass ich die Progression B-7 - Bbmaj7 - A-7 deutlich als II-V-I-Verbindung höre (natürlich mit diversen Substitutionen, die allerdings nichts an meiner Grundwahrnehmung ändern). Damit höre ich die ersten 6 Takte von CS als ein Spannungsbogen, der von einer Tonika weg und wieder zu ihr zurückführt,
Was schliesse ich aus dem was ich höre (und eine meiner Maximen ist, dass eine Analyse nur dann Bestand hat, wenn sie vom Ohr nachvollziehbar ist - sonst ist sie nur intellektuelle Onanie; der Umkehrschluss - dass sich meine Klangwahrnehmung auch in der Analyse niederschlagen muss - gilt für mich natürlich auch)? Ich habe mit Crystal Silence eine Situation vor mir, der ich mich aus verschiedenen Blickwinkeln (modal, stufen-theoretisch, funktional) nähern kann, ohne dass diese Blickwinkel voneinander abgegrenzt werden müssen. Im Gegenteil - ich will sie gar nicht voneinander trennen, weil sie sich ergänzen und meine Klangwahrnehmung in vielen kleinen Bestandteilen unterstützen bzw. bestätigen. Ich höre nicht entweder - oder sondern sowohl als auch. Warum sollte ich meine Wahrnehmung beschneiden, nur weil ich angeblich entweder - oder denken muss?
Und damit sind wir beim eigentlichen Thema dieses Threads. Hagenwil - Du hast natürlich mit Deinem gestrigen Post (Nr. 20) vollständig Recht. Das einzige Problem, das ich dabei habe, ist, dass Du auf das 8. und 16. Jahrhundert verweist und wir im 21. leben. Im 8. Jahrhundert gab es noch keine Harmonik - also wäre es überflüssig und historisch falsch aus diesem Blickwinkel über Stufen oder Funktionen zu reden. Im 20. Jahrhundert tauchen Begriffe wie Dorisch, Phrygisch usw. im Jazz plötzlich wieder auf - nun aber mit 500 Jahren harmonischer Entwicklung im Rücken. Und das berechtigt meines Erachtens zu einem Paradigmenwechsel. Ich bin der Meinung, dass man nun Dinge miteinander vermischen darf, die ursprünglich streng zu trennen waren (und auch getrennt wurden).
Ich glaube, dass Begriffe und ihre Umsetzung in die Praxis tatsächlich eine epochale Komponente und damit auch eine zeitlich beschränkte Wertigkeit haben. Was im 8. Jahrhundert oder in den 50er Jahren richtig gewesen ist, muss heute nicht mehr unbedingt stimmen. Blickwinkel ändern sich, Stile auch - warum sollen sich dann nicht auch die Begriffe bzw. die dazugehörigen Konzepte ändern? Ich möchte das mit einigen Gedanken zum Thema V-I erläutern.
Mathias - Du sagst im Post Nr. 17 etwas ganz Wichtiges: Zitat Ich bin immer davon ausgegangen, dass ein zentraler Aspekt der Epoche modaler Musik der war, möglichst auf V(7) I zu verzichten
.. Das ist - aus historischer Sicht - durchaus richtig, ist aber eben nur ein kurzer Zwischenschritt auf dem Weg zu einem viel reichhaltigeren Verständnis von Funktionalität und Modalität (Nardis - als tendenziell phrygisches Stück zeigt schon zur gleichen Zeit wie z.B. So What eine wesentlich komplexere Vermischung von Stufen, Funktionen und modalen Beziehungen).
Daher als Antwort auf Deine Frage: Ich rede auf S. 168 nicht von V7-Akkorden (als konkrete Funktion), die mit Vorsicht zu behandeln wären, sondern unter Punkt 5/6 ganz bewusst von Septakkorden und -7(b5)-Akkorden als allgemein auflösungsbedürftige Klänge, die das traditionell geprägte Ohr mit Auflösungserwartungen verbindet, die ihrerseits ein anderes als das tatsächliche tonale Zentrum suggerieren können.
An der V-I-Bewegung selber kommt man aus historischen und physikalischen Gründen nicht vorbei (siehe S. 168, 4. Punkt). Es ist aber vollständig unerheblich, ob es sich bei der V um einen V7, V-7 (geringere Auflösungstendenz als V7) oder V-7(b5) handelt (sehr starke Auflösungstendenz; stärker als V7-Mixo, ähnlich stark wie V7-Alt in Dur; McCoy anhören - der benutzt letzteren Sound sehr oft als V!!). Die Grundtonbewegung reicht allemal, um ein Kadenzverhalten zu begründen. Deshalb wird man die Akkordverbindung V-7 / I7 (in Mixolydisch) ganz klar als Kadenz hören (wie MaBa richtig anmerkt), sobald die Akkorde formal im harmonischen Fluss so platziert werden, dass I7 auch wirklich als Tonika spürbar ist. Dasselbe gilt auch für IV-I, unabhängig von den Akkordtypen (siehe S. 169 ganz oben). Das bedeutet: gibt dir irgendein Modus die Möglichkeit eine diatonische V-I-Verbindung zu bilden (egal mit welchen Akkordtypen), dann wird diese Akkordverbindung eine modustypische Kadenz sein (Ausnahme: Vmaj7 / Imaj7 in Lydisch - z.B. Fmaj7 / Bbmaj7; hier dreht das Ohr die Funktionsbeziehung sofort zu Imaj7 / IVmaj7 um, weil es die viel geläufigere Funktionsverbindung ist; ausprobieren!).
Ich habe festgestellt, dass ich (wie auch viele Kollegen, mit denen ich diskutiere) mit zunehmender Erfahrung immer weniger in Kategorien wie V-I sondern in Konzepten wie Auflösung-Zielklang höre/spiele/schreibe.
Ein einfaches Beispiel: C7 (Gb7) - Fmaj7, A7 (Eb7) - D-7 und E7 (Bb7) - A-7 sind alles V-I-Verbindungen (wobei ich hier schon nicht mehr zwischen den Dominanten und ihren Tritonusvertretern unterscheiden möchte, da sie dieselbe funktionale Bedeutung haben). Da aber Fmaj7, D-7 und A-7 allesamt Tonikaqualität in F-Dur haben, können sich alle Septakkorde (C7, Gb7, A7, Eb7, E7, Bb7) nach Fmaj7 auflösen (oder nach D-7 bzw. A-7). Es ist dabei aus kadenzieller Sicht vollständig unerheblich, welche Auflösungsvariante ich wähle, da jede gleichermaßen das V-I-Prinzip verkörpert (mit unterschiedlichen Spannungsverläufen). Bb7 - Fmaj7, E7 - D-7, Gb7 - A-7 usw. erzeugen zwar unterschiedliche Klangbilder, haben aber prinzipiell dieselbe Wirkung. Welche Variante ich wähle (z.B. als Komponist), hängt von ästhetischen Kriterien, Stimmführungspräferenzen, ungewöhnlichem Basslinienverlauf etc. ab.
Noch ein Beispiel: Löst man sich von funktionalen Beziehungen und überträgt den kadenziellen Gedanken auf Modalitäten, dann kann man eine Grundmodalität als Tonika (I) definieren. Das ist die Grundidee des Lydian Chromatic Concept
von George Russell. Er propagiert (und Miles war einer seiner gelehrigsten Schüler), dass sich Klänge zu dieser Grundfarbe in-going oder out-going verhalten. Je weiter sich das verwendete Tonmaterial von der Grundfarbe entfernt (out-going) befindet, umso stärker ist ihre kadenzielle Wirkung (V). Je weiter man sich der Grundfarbe nähert (in-going), umso geringer wird auch ihr Spannungsgefühl und Auflösungsbedürfnis.
Entscheidend für mich ist, dass es bei beiden Beispielen um dasselbe geht: Spannung-Entspannung. Solche Überlegungen führen irgendwann zu einem universalen V-I-Konzept (im übertragenen Sinn), das sich nur noch über das Maß an Abweichung vom Grundklang und nicht mehr über modale oder funktionale Zuordnungen definiert. Dann gibt es eine I (egal, was das ist - ein Akkord, eine Skala, ein begrenztes Tonmaterial, ein Konzept) und mögliche Störungen (diatonisch, chromatisch oder konzeptionell) - die dann als mehr oder wenig starke V wirken. Und damit - Hagenwil - sind wir wieder bei Deiner Unterscheidung zwischen tonikaler und nicht-tonikaler Ebene im modalen Kontext. Für mich ist auch das nichts anderes als I und V.
Ich bin bei Begriffen schon lange einerseits sehr vorsichtig und andererseits äusserst respektlos. Begriffe sind tricky. Wenn man z.B. von einer Modulation spricht, dann ist üblicherweise ein Tonartwechsel damit verbunden. Wieso redet man dann eigentlich von Modulation und nicht Tonulation (was auch eher einen Wechsel des Grundtonbezuges thematisieren würde)? Würde Modulation nicht viel besser zu einem Wechsel der Modalitäten passen (z.B. bei gleichem Grundton im Rahmen von MI-Funktionen)? Für mich sind das begriffliche Stolpersteine, die mir immer wieder beweisen, dass Begriffe, die vor 100+ Jahren entstanden sind und sich in die heutige Zeit gerettet haben, irgendwann nicht mehr für das stehen müssen, was ursprünglich damit gemeint war.
Deshalb nehme ich mir auch das Recht heraus, gewisse Dinge anders zu sehen, als es vielleicht vor 20, 200 oder 2000 Jahren Usus war - zum einen, weil ich gemerkt habe, dass gewisse (alte) Sichtweisen zwar nicht falsch sind, aber aus heutiger Sicht Lernprozesse behindern und zum anderen, weil andere Denkweisen, Begriffssysteme und terminologische Details auch zu neuen Klangmöglichkeiten führen. Je enger ein Begriffssystem gefasst ist, umso eindimensionaler sind auch die dazugehörigen Klangbilder. Das ist der Punkt, an dem ich stehe und den ich auch meinen Studenten zu vermitteln versuche.
Ich sage meinen Studenten immer wieder, dass die Musik ohne Begriffe sehr gut klar kommt. Musik denken hat für mich in dem Moment eine Bedeutung, wenn es darum geht musikalische Beziehungsnetze oder konkrete Stücke zu erklären, einfaches Mentaltraining zu betreiben (wie lauten die diatonischen Stufen in E#-Dur - aber dalli!?!) oder - was ich ja schon im letzten Post geschrieben habe - wenn es darum geht, neue Klangsysteme zu entwerfen, also Musikforschung im kompositorischen oder improvisatorischen Sinn zu betreiben. Letztlich ist es aber nicht so entscheidend, wie man Musik denkt, sondern wie man sie hört und fühlt. Musikalische Begriffe sind nichts als abstrakte Kommunikationsmittel für sehr reale Klänge, die sich einen Scheiß drum kümmern, wie sie benannt werden.
Und noch etwas zum Schluss: natürlich sind 90% meines Buches nichts als eine Wiederholung altbekannter Dinge (in meinen und dabei hoffentlich einigermaßen lensenswerten Worten). Mit den restlichen 10%, die auf meinem Mist gewachsen sind, nehme ich mir das Recht heraus, etwas zu verändern, neu zu definieren, umzudeuten - egal, ob das Euch oder sonst irgendwem passt oder nicht.
Uff - das hat jetzt doch wieder mehr Zeit gekostet, als ich eigentlich zur Verfügung habe. Trotzdem - das ist es mir wert (solange die Reaktionen nicht in Beschimpfungen münden). Und ich würde mich freuen, wenn Ihr Euch die Mühe machen würdet, auf meinen Post zu reagieren - ich bin gespannt, was da kommt.
Cheers
Frank
PS:
. und voice7 - relax!!
PPS: Mathias - ich war mal kurz auf Deiner Website. Hut ab! Schön zu sehen, dass ein in vielen Bereichen aktiver Musiker noch Zeit für solche Threads hat. Schön auch, wie Du zum Unterrichten stehst (If you can, do, if you cant, teach?? Bullshit!!).