... die als 5. Modus von Harmonisch Moll auftretende Tonleiter ist laut Michael Hewitt / Musical Scales of the World tatsächlich in den folgenden Musikkulturen gebräuchlich: [...]
Mein Argument war, dass es die genannten Akkordskala
"in dieser Form, Bezeichnung und Ableitung in der Praxis und Theoriebildung" in den damit existierenden Musikkulturen überhaupt nicht gibt.
Dass man als Vertreter z.B. der Akkordskalen-Theorie nachweisbare oder auch nur vermutete Analogien mit dem
Begriffsrepertoire der eigenen Theorie versehen kann, sei jedem freigestellt, solange dabei nicht der irrtümliche Eindruck entsteht, Denkmodelle und Nomenklatur der eigenen theoretischen Position und ihrer Kultur seien mit dem musikalischen Denken und der Begriffsbildung der beschriebenen fremden Kultur identisch. Das ist neokolonialistische Ignoranz, denn der Beschreibende hat nicht die begriffliche Oberhoheit über die zu Beschreibenden.
Das Akkordskalensystem ist bei jüngeren, westlich ausgebildeten Musikern der genannten Musikkulturen durchaus bekannt und findet in einem adäquaten Kontext auch Anwendung. - Jazz und Pop sind eben weitgehend globalisiert. Bezeichnungen wie
"cifrado americano" (für Akkordbuchstaben statt romanischer Tonbezeichnungen) verweisen aber darauf, dass man sich in den betreffenden Ländern durchaus der "Otherness" ausländischer Konzepte bewußt ist.
Auf die traditionellen, authochthonen musikalischen Produkte ist das Akkordskalensystem aber im Regelfall nicht ohne gegenseitiger Sinnentstellungen übertragbar, sofern nicht bereits Elemente der westlichen Popularmusik die Stilistik dominieren.
"Spanish Phrygian Mode" im Flamenco: Dies ist eine eindeutige Fremdbezeichnung. Ein Flamencomusiker muss nicht von einem "spanischen Modus" sprechen, da sein "modo frígio" bzw. "modo de MI" (E-Modus, d.h. der 3. Kirchenton = Phrygisch) seit Jahrhunderten zum charaktertistischen Melodie- und Harmoniebestand der iberischen Halbinsel gehört.
Der
modo de MI ist zudem keine auf den "5. Modus von Harmonisch Moll" zurückführbare "Tonleiterspezies", also kein durch Ableitung von einer "mother scale" generiertes Skalenmodell, sondern ein autarkes Tonsystem - zu dessen Merkmalen grundsätzlich die große Terz der phrygischen Tonika gehört, ohne dass sich daraus eine Veränderung der phrygischen Tonleiterstruktur (HT-GT-GT | GT | HT-GT-GT) ergeben würde.
Die Hochalterierung der phr III (g) ist rein harmonisch bedingt, die überm. Sekunde f-gis hingegen wird in der Melodielinie nur gelegentlich, und erst seit den 1980ern mit ihrer Rückbesinnung zur andalusisch-maurischen Kultur, ganz bewußt zur Evokation "nostalgisch-maurischer" Stimmungen angewendet, also analog zum unteren Tetrachord des Maqam Hijaz (s.u.), ohne deshalb in Form einer eigen Skala thematisiert werden zu müssen. Tonika in MI ist E-Dur, Dominanten sind F6# (II) oder Dm6 (VII), F-Gis ist eine modische, "orientalisierende" Wendung - mehr nicht.
Die in einigen Flamencokreisen alternativ verwendete Bezeichnung "modo dórico" bezeichnet das griechisch-antike Dorisch mit dem Ambitus e-E (absteigend). Diese Bezeichnung hat eine eindeutig ideologische Konnotation und wird daher gerne von andalusischen Regionalisten verwendet, die die "Rück-Eroberung" des maurischen Andalusien durch die christlichen Königreiche als "Eroberung" betrachten, und daher auch Bezeichnungen aus dem Umfeld der römisch-katholischen "Besatzer-Kirche" ablehnen. Wer allerdings unter Flamencos von einem "spanish phrygian mode" faselt, wird schnell als Tourist geoutet, dem man ohne Skrupel auch eine Schrottklampfe für teures Geld andrehen darf.
"Hijaz" in der griechischen Folklore (z.T. auch im türkischen Raum): Korrekter "
Maqam (türkisch
Makam) Hijaz" ist - wie der Name sagt - ein Makam, d.h. ein melodisches Strukturmodell, vergleichbar mit dem indischen Konzept des Raga, und wie dieses ebenso komplex im Aufbau, wie in der musikalischen Realisation. Eine Darstellung des Maqam-Raga-Komplexes ist hier beim besten Willen nicht möglich, aber auch für den Maqam Hijaz gilt, dass er mehr Gemeinsamkeiten mit den strukturellen und funktionalen Melodiegestaltungsprinzipien der christlichen Gesangspraxis hat, als mit dem Begriffsrepertoire der Akkordskalentheorie.
"Ahavah Rabbah im Klezmer": Ist nicht auf Klezmer beschränkt, sondern eine jüdischer Liturgieformel. Yiddisch auch "Freygisch". Melodisch im unteren Tetrachord wie Makam Hijaz (HT-übermGT-HT), in populären Melodien meist ähnlich harmonisiert, wie in der spanischen Praxis des
modo frígio, also Tonika I=E-Dur, Dominante VII= Dm6 , Subdominante IV=Am. Im Unterschied zum Maqam Hijaz (melodischer Confinalis häufig auf IV), wird melodisch die III# als Confinalis bevorzugt. Also auch hier ein eigenständiger Modus, und somit keine abgeleitete oder sonstwie legitimierte Akkordskala.
Das Fazit hast du eigentlich bereits vorausgenommen:
Es ist gut möglich, dass diese Aussagen vereinfachend sind, weil zwischen dem melodischen Material und den Akkorden für die Harmonisierung nicht unterschieden wird
Das ist genau der Punkt - zu dem noch hinzukommt, dass bereits nur das melodische Material mit einem Skalenmodus der CS-Theorie
strukturell (z.B. durch Cursus, Ambitus, Klauseln) und
funktional (durch Finalis, Repercussa, usw.) nicht mehr adäquat zu beschreiben ist, wodurch unter dem Strich an vermuteten Gemeinsamkeiten nur einige äußerliche Ähnlichkeiten in den Tonabständen übrigbleiben - was natürlich - nicht nur angesichts teilweise sogar unterschiedlicher Stimmungssysteme - sehr, sehr wenig ist.