Du verstehst die Akkordskalen-Theorie ja offenbar in einem etwas weiteren Sinne als Ansatz, Akkorde (nur) aus dem skalaren Rohmaterial zu bilden. [...] Zu den Akkorden werden in Abhängigkeit von ihrer Funktion passende Skalen ermittelt, daher "Akkordskalentheorie".Na
Soweit ich die bisher konsultierte Literatur zur CS-Theorie und ihrer Fundierung bzw. Erweiterung richtig verstanden habe, geht diese von der Idee der
Identität von Skala und Akkord aus (was übrigends historisch kein ganz "neues" Konzept ist), d.h. die Skala impliziert bereits das dazu kompatible Akkordmaterial, während die Akkorde umgekehrt bereits auf das dazu melodisch kompatible Skalenmaterial verweisen. Das kann als Konzept zunächst durchaus eine gewisse praktische Relevanz haben, z.B. für Blasinstrumente, die a anders als z.B. die Klaviertastatur - keine unmittelbare Visualisierung von harmonischen und melodischen Zusammenhängen ermöglichen.
Dass der akkordische und skalare Materialvorrat durch Erweiterung und Manipulation des Systems zumindest theoretisch bis an die Grenzen der Atonalität erweitert werden kann, ist ein normaler Entwicklungsprozess, der aber die eingangs formulierte Grundidee der "CS-Identität" nicht in Frage stellt.
Wenn ich der CS-Theorie dennoch kritisch gegenüberstehe, dann hat das - ich gebe es gerne zu - in gewisser Weise mit dem kulturellen Dünkel meiner zumindest
musiktheoretisch durch und durch "abendländischen" Sozialisation zu tun. Was mich dabei nicht nur an der CS-Theory, sondern auch an vielen anderen Ansätzen der amerikanischen Theoriebildung, insbesonders der New Musicology stört, ist ihr Hang zur "Excel-Tabelle": Seien es CS-Permutationen oder PC-Sets - ohne ermüdende Zahlenkolonnen scheint bei den Amis nichts mehr zu gehen!
Dass sich diese "Tabellomanie" dann selbst in Lehrwerken niederschlägt, führt zu methodischem Schwachfug wie z.B. Haunschilds "Harmonielehre", in der allen Ernstes versucht wird,
musiktheoretische Erscheinungen (mit Blick auf das einträgliche Marktsegment der musikalischen Analphabeten) auf Text- und Tabellenform zu reduzieren.
Von der ideologischen Fundierung einiger dieser Theoriekonzepte möchte ich mal ganz absehen - da ist mir vieles im Kern schlichtweg in der Geisteshaltung implizit viel zu "protestantisch-kapitalistisch", um es ohne Widerspruch goutieren zu können. Denn letztlich steht dahinter meist der Gedanke, dass es jeder Vollidiot mit ausreichendem Gottvertrauen und viel Fleiss vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen kann. Und "Fleiss" bedeutet hier oftmals nicht mehr, als das stumpfe Abarbeiten von Skalenpattern. Dass der "nur Fleissige" (im Gegensatz zum "auch Begabten") dann mit seinem Sack exotischer Skalen irgendwann planlos und frustriert herumsteht und letztlich beim Tellerwaschen bleiben muss, wird gerne unter den Teppich gekehrt.
Hm, ich weiß jetzt nicht, wievie lokrische Tonarten du kennst, ich kenne eben diese, die man im 19. Jhrd "dazugedichtet" hat.
Ich bin in Fragen der musiktheoretischen
Begriffsgeschichte kein Experte, und könnte daher hier nur das referieren, was ausgemachte Kenner des Fachs, wie z.B. Edward Nowacki, einerseits zum Gebrauch des
Begriffs "Lokrisch", andererseits zur
Benennung des Tonraumes H-h anhand der vorhandenen Quellen aus Antike, Mittelalter, Renaissance und Moderne zusammmengetragen haben.
Das läßt sich mit der groben Kelle so zusammenfassen, dass Lokrisch lange Zeit synomym zu "Hypodorisch" (A-a) verwendet wurde, während H-h teilweise mit "Mixolydisch" bezeichnet wurde (auch Hypophrygisch geht von H-h, allerdings mit dem Grundton E in der Mitte: H-e-h).
Die wahrscheinlich zutreffenste Formulierung stammt von Nowacki (On the Locrian Mode, in: Music Theory Spectrum 41 (2019), S, 37ff), der "locrian" schlichtweg als
"urban legend" bezeichnet hat ...