Mein Argument war, dass es die genannten Akkordskala "in dieser Form, Bezeichnung und Ableitung in der Praxis und Theoriebildung" in den damit existierenden Musikkulturen überhaupt nicht gibt. [...]
Vielen Dank noch für Deine ausführliche und wieder sehr interessante Antwort!
Das ist genau der Punkt - zu dem noch hinzukommt, dass bereits nur das melodische Material mit einem Skalenmodus der CS-Theorie strukturell (z.B. durch Cursus, Ambitus, Klauseln) und funktional (durch Finalis, Repercussa, usw.) nicht mehr adäquat zu beschreiben ist, wodurch unter dem Strich an vermuteten Gemeinsamkeiten nur einige äußerliche Ähnlichkeiten in den Tonabständen übrigbleiben - was natürlich - nicht nur angesichts teilweise sogar unterschiedlicher Stimmungssysteme - sehr, sehr wenig ist.
Das habe ich so schon befürchtet, in den Musikkulturen kommen eben nicht isolierte Skalen zum Einsatz, sondern es werden "lebendige" Tonsysteme gebildet, deren Tonmaterial nicht durch eine einzelne Skala darstellbar ist und dessen Einsatz in Melodie und Harmonik nicht beliebig ist, sondern eben für die jeweilige Kultur spezifischen Konventionen unterliegt.
So wie "Moll" in der Dur-/Moll-Tonalität eben nicht auf eine einzelne Skala reduzierbar ist und z.B. im Einsatz der Alternativtöne (wie kleine vs. große Septime) und der Harmonisierung gewissen Regeln folgt.
Deiner Argumentation entnehme ich, dass es mit dem phrygischen in den genannten Kulturkreisen ganz genauso ist, insbesondere im Spanischen, so dass es dort keinen Sinn ergibt, die 'reine' phrygische Tonleiter von der 'spanisch phrygischen' Tonleiter mit Durterz zu trennen. Genauso auch beim Maqam Hijaz.
Für das Indische war mir die Unbrauchbarkeit der Skalen-Listung eh schon klar - die 72 Melakarta Ragas bilden zwar grundsätzlich ein abgeschlossenes System aus 72 systematisch hergeleiteten Tonleitern, d.h. die indischen Meister sind damals bei der Erfassung des Tonmaterials kombinatorisch vorgegangen und haben alle theoretisch in ihrem System möglichen Kombinationen auch in das System mit aufgenommen, die Nutzung des Tonmaterials ist aber kulturell so starken Regeln unterworfen, dass man sie durch bloße Nennung der jeweiligen Skala sicherlich nicht angemessen erfassen kann.
Dass man als Vertreter z.B. der Akkordskalen-Theorie nachweisbare oder auch nur vermutete Analogien mit dem Begriffsrepertoire der eigenen Theorie versehen kann, sei jedem freigestellt, solange dabei nicht der irrtümliche Eindruck entsteht, Denkmodelle und Nomenklatur der eigenen theoretischen Position und ihrer Kultur seien mit dem musikalischen Denken und der Begriffsbildung der beschriebenen fremden Kultur identisch. Das ist neokolonialistische Ignoranz, denn der Beschreibende hat nicht die begriffliche Oberhoheit über die zu Beschreibenden.
Ich gebe Dir absolut recht, wenn man diesen Begriffsapparat auf die Musik der jeweiligen Kulturen anwendet bzw. ihr "überstülpt" und sie damit zu erklären versucht.
Aber darum geht es in den meisten Fällen ja gar nicht.
Es gibt einfach heute in Jazz und Pop sehr viele gebräuchliche Skalen und p.c. sets oder Skalenpatterns eignen sich nicht so gut, um jemand eben mal rüberzurufen, welche Skala zu verwenden ist.
Da ist es praktisch, wenn man einen Namen für die Skala hat. Und genau an der Stelle müssen dann eben die in anderen Kulturen schon gebräuchlichen Bezeichnungen herhalten, weil deren Verwendung immer noch verständlicher ist als ein ad hoc erfundener Name. Die Musik des jeweiligen Kulturkreises wird hier also in keiner Weise berührt, man "leiht" sich nur um der Kommunizierbarkeit willen einen schon vorhandenen Namen, weil die Dinge eben Namen brauchen, damit man bequem über sie sprechen kann.
Der modo de MI ist zudem keine auf den "5. Modus von Harmonisch Moll" zurückführbare "Tonleiterspezies", also kein durch Ableitung von einer "mother scale" generiertes Skalenmodell, sondern ein autarkes Tonsystem - zu dessen Merkmalen grundsätzlich die große Terz der phrygischen Tonika gehört, ohne dass sich daraus eine Veränderung der phrygischen Tonleiterstruktur (HT-GT-GT | GT | HT-GT-GT) ergeben würde.
Hier hast Du in dem Sinne natürlich recht, dass es sich um ein eigenes Tonsystem handelt, siehe oben.
Mich stört aber die Sichtweise, die in diesen Zeilen hier rauskommt: "auf den 5. Modus von Harmonisch Moll zurückführbare Tonleiterspezies, also kein durch Ableitung von einer mother scale generiertes Skalenmodell".
Dass eine Skala ein Modus einer anderen Skala ist, ist eine rein formale, wechselseitige Beziehung. Aeolisch ist der 6. Modus von Ionisch und Ionisch der 3. Modus von Aeolisch.
Da es keine beschränkt transponierbaren siebentönigen Skalen gibt, hat jede siebentönige Skala genau sechs von ihr verschiebene Modi und ist ihrerseits natürlich auch selbst ein Modus dieser sechs Skalen.
Die Tatsache, dass eine Skala als Modus einer anderen Skala auftritt, bedeutet in keiner Weise, dass sie dadurch eine höher zu gewichtende "mother scale" darstellt.
Wegen der Symmetrie der Modus-Beziehung wäre diese Sichtweise absurd, denn die angebliche Mother Scale ist ja auch als Modus der Kindskala darstellbar.
Also, die bloße Tatsache, als Modus einer anderen Skala darstellbar zu sein, bedeutet nicht, dass man die eine Skala auf die andere "zurückführen" würde (die Skalen sind wechselseitig "ableitbar", aber keine ist aus der anderen "abgeleitet" und daher irgendwie untergeordnet).
Ich hatte auch in meinem vorigen Beitrag bewußt vorsichtig formuliert und die Beschreibung "als 5. Modus von Harmonisch Moll auftretende Tonleiter" war rein extensional gemeint, d.h. sie sollte nur das Tonmaterial klären, damit ich hier nicht ein p.c. set oder Skalenmuster hinschreiben muss.