Hi,
@n****t,
Ich habe deinen Text gleich gelesen, melde mich aber jetzt erst. Der Grund: mit gefiel der Text nicht sonderlich, aber das alleine reicht nicht für eine konstruktive Kritik. Der "Berichtston", der manchen aufgestoßen ist, ist wohl der Grund meiner Ablehnung.
Klar, der Inhalt ist biografisch. Es gab bestimmte Konstellationen in der Familie, die zu einer schwierigen Kindheit führten, und den einzigen Schulkamerad, der einen Gegenpol bildete, und diese Begebenheiten hast du sachlich dargestellt. Was dabei herauskam ist für mich kein biografischer Liedtext, sondern eine Biografie, und zwar in romanhafter Breite erzählt.
Ein Liedtext ist aber kein Roman. Wenn man ihn mit einem literarischen Genre vergleichen will, dann mit der Kurzgeschichte. Schon allein wegen der Kürze.
Der Text von Springsteens "
Highway Patrolman" gefällt mir auch nicht besonders, aber er funktioniert, weil er viele Merkmale einer Kurzgeschichte besitzt:
1. Wenige - heir nur 2 - Personen, der Patrolman und sein Bruder Franky sind beteiligt. Maria kommt nur als Symbol für deren brüderliche Verbundenheit vor, und sonst gibt's nur wenige Statisten (ein blutender Junge und ein weinendes Mädchen, beide namenlos).
2. Die beiden Personen werden plakativ charakterisiert - der Patrolman als ehrlichen Mann, der Bruder als Taugenichts. Keiner der beiden Charaktere entwickelt sich im Laufe der "Geschichte", und diese plakativen Charakter führen zum
Konflikt - ein wichtiger Begriff bei der Kurzgeschichte.
3. Es werden keine Hintergründe dargestellt. Wir sehen einen ehrlichen Patrolman und einen Taugenichts von Bruder. Das reicht. Wie und warum sie so geworden sind, interessiert nicht.
4. Eine klare Erzählperspektive wird eingehalten. Alles wird aus der Sicht des Patrolman dargestellt. Dessen Gedanken - z.B. "Wer seiner Familie den Rücken kehrt, taugt nichts" - werden erzählt; die Gedanken des Bruders nicht.
5. Auch die Entsetzlichkeit der Tat des Bruders wird nicht beschrieben, sondern mit dem Weinen des namenlosen Mädchens gezeigt. (Kardinalregel der Kurzgeschichte: "Show, don't tell" - "Zeigen, nicht erzählen.")
Hinter diesem Liedtext steht natürlich eine Romanhafte Metageschichte. Der Patrolman ist wohl nicht ohne Grund ein ehrlicher Mensch geworden, der Bruder nicht ohne Grund ein Taugenichts. War es wegen des Vaters? Der Mutter? Einer Scheidungsgeschichte, die den Jüngeren Bruder zur falschen Zeit seiner Entwiklung erwischte? (Wir wissen nicht, wer der ältere Bruder ist, und wie groß der Altersunterschied ist.) Und was ist mit dem blutenden Jungen und dem weinenden Mädchen? Hat sie womöglich Frankie wegen dem Jungen verlassen? Oder haben die beiden eine Liebesbeziehung gelebt, die Frankie versagt blieb?
Fragen über Fragen - aber für eine Kurzgeschichte - oder Liedtext - völlig irrelevant.
Relevant ist nur, dass der Patrolman seinen Bruder vor der Landesgrenze nicht aufgehalten hat, obwohl er es wegen der Schwere des Vergehens hätte tun müssen.
In deinem Text sehe ich:
1. Zu viele Personen: Du, Geschwister (besonders Wotan), Vater, Mutter, Stiefmutter, Schulkamerad.
2. Entwicklungen: Wotan ändert sich wegen des Unfalls, wichtig ist aber nur, dass er Epileptiker ist.
3. Hintergründe: wie du zu einer Stiefmutter gekommen bist, kann man sich denken. Wie der Wotan zum Epileptiker wurde, ist zwar tragisch, aber seine Epilepsie an sich ist genug, um deine Verbundenheit mit der "neuen Mama" zu zeigen.
4. Du schreibst zwar in der 1. Person, aber du stellst die inneren einstellung anderer dar, z.B. dass die Geschwister dich nicht geliebt haben
5. Du erzählst, was du leicht zeigen könntest: "Meine Mama hat es nicht leicht gehabt / Die Geschwister mochten sie nicht. / Sie trauerten der toten Mutter nach.
Was du noch versuchen könntest:
1. Reduziere dich auf das Wesentliche: du und deine neue Mutter. Lass die leibliche Mutter, an die du dich nicht erinnerst, nicht erst in Erscheinung treten. Dein Vater scheint auch keine wichtige Rolle zu spielen, außer, dass er neu geheiratet.
2. Gehe von der Konstellation aus, die du erlebt hast. Was vorher war, lass weg!
3. Sage, wie es war, nicht wie es so geworden ist.
4. Rede nicht von Liebesentzug - nenne Beispiele!
5. Wenn's nicht anders geht, löse deine Erzählung in Dialog auf, z.B.: "Meine Mama hat oft geweint, wenn sie sagten, 'Du bist nicht unsere Mutter'"
Ich hoffe, dass diese Kritik nun konstruktiv genug ist!
Cheers,
Jed