Ich glaube, das ist eine verzerrte Wahrnehmung.
Es gibt unfassbar viele Jugendliche, die sich "Den Arsch abspielen", und durch all das kostenlose Wissen und die kostenlose Musik und die billigen Instrumente extrem viel besser sind als es mir in dem Alter jemals möglich gewesen wäre. (...) Vielleicht mag sich der Fokus in Top10-Popmusik etwas von "perfekter Instrumentenbeherrschung" zu "perfekter Selbstvermarktung" verschoben haben. Einen Mangel an guten Musikern kann ich aber nicht erkennen.
Bzgl. der erstgenannten Aspekte bin ich bei Dir; mir sind in den letzten Jahren beim Kauf oder Verkauf von Equipment junge Gitarristen (um die 20 Jahre alt) begegnet, die technisch betrachtet alles in den Schatten gestellt haben, was ich zuvor je aus nächster Nähe miterleben durfte. Da habe ich mich regelrecht für meine eigenen, im Vergleich armseligen "Fähigkeiten" geschämt. Andererseits stellte sich im Gespräch heraus, dass die ihre Skills nicht nur aus dem Internet bezogen hatten - sie waren auch selbst ausschließlich "für" das Web musikalisch aktiv, d.h., sie machten Homerecording und Youtube, hatten aber überwiegend noch nie in einer Band gespielt (meine Standardfrage in solchen Situationen immer: Wo kann ich was von Deiner Band hören?).
So, und da habe ich dann in der Tat mit denen nicht tauschen wollen, also 30 Jahre "semi-professionelle" Banderfahrung mit allem, was da zu gehört, vom Übernachten im JZ in den vollgeschwitzten Bühnenklammotten zu Festival-Auftritten auf großen Bühnen, mal im Asuland zu touren usw.
Ich sehe auch hier die Entwicklung zu "Vermeidung von Imperfektion" (Proberaumkeller, endlose, ermüdenden Kreativ-Diskussionen und -Dispute in der Band, beschissener Bühnensound, besoffene Mitmusiker ...) hin zur "professionellen" Selbstdarstellung im Netz, mit der sich zudem heute ja auch durchaus Geld verdienen lässt, wenn's läuft.
Was die Popmusik angeht: Da ging es natürlich auch in den 80ern schon um "Perfektion", allerdings gab es da noch den "menschlichen Faktor", d.h. die Top-Acts hatten Top-Studio-Musiker am Start - heute staune ich, wenn ich bei Songs, die ich früher als "Plastik-Pop"abgetan habe, genauer hinhöre und feststelle: "Wow, das sind echte Drums - und was für eine coole Basslinie" - und das kam eben nicht "aus der Dose", sondern das wurde von "analogen Wesen" eingespielt. Bsp. Jacksons "Beat it" oder "Billie Jean" mit Toto als "Begleitband" - perfekt produziert, nichts dem Zufall überlassen - und trotzdem groovt das wie Sau. Und so etwas entseht durch menschliche Interaktion, nicht durch "Quantisierung" und Tonhöhenkorrekturen ...
Dass man mit geringeren Budgets mehr machen kann, wenn man kein großes Studio und Musiker bezahlen muss, ist klar. Ich denke, all diese Entwicklung (weniger analog/Mensch/"menschliche Unvollkommenheit", mehr digital/Maschine/Perfektion) gingen, bzw. gehen schon Hand in Hand.
Ich bin da aber gar nicht so "bitter" darüber, ich denke immer: Selbst wenn ab heute gar keine neue Musik mehr produziert würde, so gäbe es bis zum Lebensende noch so viele geile Sachen aus den 60er bis 90ern zu entdecken (und sicher auch in Nischen - das ein oder andere aktuelle), dass ich als Konsument keinen Mangel leiden würde ...
Ich finde aber schon schade, dass die Erfahrung, was es bedeutet, zusammen Musik zu machen (in Echtzeit, mit Fehlern und Imperfektion, aber eben auch - dadurch bedingt? - "Magie") zunehmend unattraktiver zu werden scheint. Naja, der Youtuber ist halt der Pop-/Rockstar von heute. Mal sehen, was danach kommt. Vielleicht empfinden ein paar wütende Mädchen und Jungen den Plastikkram ja irgendwann als "Fake" und schnallen sich verstimmte E-Gitarren um und reißen den Amp auf 10 ... ;-)
PS: Übrigens bin ich schon der Meinung, dass man mit digitalem Equipment weitgehend "analog"/natürlich klingende Produktionen machen kann. Auch hat das digitale Mastering z.B. der Beatles oder Floyd-Alben die Musik nicht ruiniert. Es geht also durchaus, wenn man weiß, was man erreichen will.
Lediglich im Pop-/Rock entspricht das halt momentan nicht dem anerzogenen Hörempfinden der Konsumenten - und würde bei einem Umschwenken wohl erstmal zu akustischen Irritationen führen ...