Das schützenfest geht bei tanz und bier weiter, die tür zur schenke schließt sich, man hört nur noch abgerissene fetzen der walzerbegleitung, dann klingt in die stille ein rauhes, rhythmisiertes "d". Weber ist ein meister realistischen einsatzes der instrumente, wir können nicht hören, wie das herz des jungen mannes schlägt nach dem spott der bauern und der rauferei, aber wir hören die viola (das wort "bratsche" klingt nicht gut und ist ein sprachlicher unsinn wie das "cello", viola da braccio, da gab es noch die viola da gamba, die eine wie die violine gehalten, die andere wie das violoncello). Max steht allein auf der bühne und offenbart seine geheimsten gedanken und gefühle, besser gesagt, er wird durchleuchtet wie der gläserne mensch im Dresdener Hygienemuseum, und das angewandte mittel sind nicht röntgenstrahlen oder die couch eines psychotherapeuten, die worte deuten nur an, es ist die musik, die das seelengemälde vollendet.
Morgen soll er den probeschuss ablegen, der über seine zukunft entscheidet, und nichts ist ihm gelungen in letzter zeit, nicht einmal beim schützenfest hat er die scheibe getroffen. Was geht in ihm vor?
Was geht da überhaupt vor? Es gibt eine kurze notiz über einen kriminalprozess aus dem 17.Jh.: in Böhmen war ein jäger angeklagt worden, mit dem teufel im bunde kugeln gegossen zu haben, die sicher trafen. Nicht nur frauen und mädchen waren der hexerei verdächtigt, peinlich befragt und grausam bestraft worden, aberglaube wucherte allerorten. Wie bitte, das war nun lange her? Mitnichten, noch anfang des 19.Jh.s fanden in Spanien "auto-da-fés" (glaubensbekundungen!) statt, ketzerverfolgungen als volksbelustigung, Goya, der die schrecken der priesterherrschaft wie die des krieges dokumentiert hat, musste fliehen, erst die französische armee machte dem spuk ein ende.
Zurück: ein schriftsteller des angehenden 19. Jh.s. greift das thema auf, gibt ihm eine unbeholfene dramatische form, ein komponist setzt die worte in musik, und nun steht ein sänger vor uns, der das nachvollzieht und uns, den zuschauern und -hörern vermittelt. Was für ein prozess, über wieviel stationen werden informationen transportiert, bis sie bei uns anlangen. Ja, wenn sie überhaupt anlangen, denn sie setzen aufnahmefähigkeit und -bereitschaft voraus. Ich beziehe mich auf eine befragung von 15jährigen, die von ihrem lehrer vorbereitet, sich die oper anschauten. Sie seien schon beeindruckt gewesen, aber die musik habe gestört.
Wenn man auf "action" fixiert ist, stört es natürlich, wenn da jemand lange an der rampe steht und über gut und böse philosophiert, und ein vorgang, den ich der physikalischen resonanz vergleichen möchte, findet nicht statt, wenn die gegenseite anders gestimmt ist oder die entsprechenden saiten nicht vorhanden, unterentwickelt oder verkümmert sind. Kunsterlebnis kann auf vielen ebenen stattfinden oder auch ausbleiben.
Weber komponiert nicht eine arie, er schafft eine "szene": rückblick auf die schönen tage vor dem konflikt, was erwartet, was denkt und fühlt die geliebte, zweifel tauchen auf, was kann ich, soll ich tun, sind wir finsteren mächten ausgeliefert, gibt es einen gott? Darüber diskutiert das Musiker-Board seit langem ohne ergebnis. Aber wer spricht da: der jäger aus dem 17.Jh., die im 19.Jh. geschaffene opernfigur, der sänger, der vor uns auf der bühne steht? Betrifft es uns selbst, tragen nicht auch wir konflikte mit uns herum, tun wir, was wir eigentlich tun sollten, unterlassen wir, was besser unterlassen würde, wie weit hängen wir von äußeren umständen ab, resignieren wir, sind wir schuld an missständen, können wir dazu beitragen, sie zu ändern ?
In dieser situation wird Max ein unfehlbares mittel angeboten, zwar mit risiko behaftet, aber wer verzweifelt ist - - - - - es geht sehr menschlich zu im "Freischütz".