Ich habe übrigens, fällt mir gerade ein, einen Artikel im Internet zu diesem Thema gefunden, den ich euch nicht vorenthalten möchte:
Hits ohne Hörer
Wer verfolgt eigentlich noch die Charts? Die angeblichen MASSENPHÄNOMENE des Pop sind längst Minderheitenprogramme. Die Zukunft gehört den Mikrohits.
von Marc Deckert
Im Juli dieses Jahres konnte man auf dem amerikanischen Musikfernsehsender VH1 ein seltsames Ereignis bestaunen. Dort läuft das Quiz »World Series of Pop Culture«, in dem Kandidaten mit ihrem Wissen über Popkultur glänzen. Die Teilnehmer sind Menschen, die nahezu alles über Pop wissen, von Bonos bevorzugtem Speisefisch bis zum Mädchennamen von Pete Dohertys Tante. Im Viertelfinale des über eine ganze Saison laufenden Turniers trafen die Teams »Almost Perfect Strangers 2.0« gegen »Remo Leen-Teen-Teen« aufeinander. Sie erwischten zunächst eine leichte Kategorie: Chartshits des Jahres 2006. Der Moderator Pat Kiernan begann Zeilen vorzulesen - aus aktuellen Liedern von Justin Timberlake, Christina Aguilera, Shakira und Paris Hilton. Man erwartete wild durcheinanderfliegende Antworten. Doch die Kandida ten starrten leer in die Kameras und begannen zu schwitzen. Sie erkannten keine einzige Zeile.
Wie viele Lieder der aktuellen Top Ten könnten Sie mitsingen? Zwei? Drei? Wir gratulieren: Das ist nicht schlecht. In der NEON-Redaktion war Ende August niemand in der Lage, ein Lied aus den aktuellen Top-3 zu summen. Die zu jener Zeit aktuelle Nummer eins der deutschen Singlecharts, »You can get it« von Dieter Bohlen und Mark Medlock, hatte - keine Lüge! - noch gar niemand gehört. Zumindest nicht bewusst. Früher schimpfte man wenigstens auf die Charts oder machte sich darüber lustig. Heute rufen sie mitunter nur noch Achselzucken hervor.
Solche kleinen Beobachtungen mögen vielleicht nur ein weiterer Beleg für das sein, was ohnehin überall steht: Die Tonträgerbranche steckt in Schwie rigkeiten. Seit Jahren schon werden Nachrufe auf die CD verfasst, seit sieben Jahren sinken die Umsätze, aber bislang wirkte die CD höchstens ein wenig gebrechlich. Jetzt liegt sie tatsächlich im Sterben. Im ersten Geschäftsquartal 2007 brach das ohnehin schon stark geschrumpfte Tonträgergeschäft verglichen mit dem Vorjahreszeitraum noch einmal um ein ganzes Fünftel ein. Frankreich beklagte 25 Prozent Verlust, Großbritannien 20, die USA 15. Die Handelskette HMV, ein Multi, der vornehmlich Tonträger verkauft, halbierte ihren Umsatz innerhalb nur eines Jahres. Auch der wachsende Umsatz mit MP3s und anderen downloadbaren Formaten reicht bei weitem nicht aus um diesen Einbruch auszugleichen: CDs machen immer noch 85 Prozent des Tonträgerhandels aus. Zwei der verbliebenen vier großen Musikkonzerne, EMI und Warner Music, schreiben rote Zahlen. Letztere mussten im letzten Quartal 2006 einen Gewinneinbruch von 74 Prozent hinnehmen.
Am drastischsten zeigt sich der Niedergang des Marktes aber an seiner Spitze: bei den Hits. In den goldenen Zeiten der CD-Umsätze, den 90er Jahren, verkaufte die Boyband N'Sync am ersten Tag 1,1 Millionen Alben in den USA. Mittlerweile gilt es in Amerika als nahezu unmöglich, überhaupt mehr als eine Million von einem Album abzusetzen. In diesem Jahr konstatierte man bereits die zwei schwächsten Nummereins- Alben aller Zeiten. 50 000 Stück pro Woche reichen, um sich an der Spitze zu behaupten. In Deutschland ist nach dem Deutsch-Pop-Boom der vergangenen Jahre wieder bleierne Ruhe eingekehrt. Der erfolgreichste Albumkünstler des Jahres wird wohl ein Veteran sein: Herbert Grönemeyer. Die CD-Single ist als Format effektiv schon jetzt tot. Es wird noch etwas mehr als ein Viertel der Menge von vor zehn Jahren verkauft.
Die Standardargumentation für diesen Zusammenbruch lautet: Die Musikindustrie leidet unter anhaltender Musikpiraterie in Form illegaler Musikdownloads und CD-Raubkopien. Was nicht von der Hand zu weisen ist: »82 Millio nen Deutsche verwandelten sich in eine Nation von Schwarz brennern, die Pfennige für Alben ausgaben, die früher 40 DM kosteten«, schreibt Robert Sandall, der ehemalige Kommunikationsdirektor der Plattenfirma Virgin im aktuellen »Prospect Magazine«: »Der einst größte Markt Europas ist heute nicht größer als der holländische.«
Aber möglicherweise gibt es auch noch einen anderen Grund. Man könnte ja auch fragen: Wenn all die Schwarzbrenner, Kopierer, Ripper und Downloader, die in den Alpträumen der Musikmanager herumspuken, plötzlich wieder CDs im Laden erstehen würden, wofür würden sie sich dann entscheiden? Für Monrose? Es darf vermutet werden: nein. Wer sich jahrelang an das gewaltige und diversifizierte Musikangebot des Internet gewöhnt hat, der kehrt nicht so einfach zu dem Regal zurück, in dem die traurigen zehn Silberlinge stehen, die laut Media Control derzeit den Musikgeschmack der Deutschen repräsentieren. Im Jahr 2006 kauften die Deutschen 7,4 Millionen tragbare MP3-Player. Auf manchen der Geräte lagern zehntausende von Songs, eine Menge, die der physischen Plattensammlung eines Musikjournalisten oder Radio-DJs entspricht. Mehr Songs, das bedeutet auch: mehr Wissen, mehr Information - und alles in allem eben: mehr Hunger auf Musik! Vielleicht sind unsere Vorlieben inzwischen tatsächlich etwas zu divers geworden für das Einheitsmenü der Musikindustrie. Die Charts mögen ein Teil unseres Speiseplans sein, aber sie sind höchstens noch so wichtig wie die Erbsenbeilage.
Für die Umkehrung der Machtverhältnisse im Musikmarkt gibt es ein leicht verständliches Symbol: Der amerikanische Journalist Chris Anderson, nennt es »den langen Schwanz«. Anderson, der hauptberuflich Chefredakteur des Technologie- und Lifestylemagazins »Wired« ist, untersuchte für einen Artikel die Downloadzahlen eines legalen Musikportals - Rhapsody - im Internet. Er fragte sich, wie viele Songs aus dem großen Angebot der virtuellen Musik läden überhaupt Anklang beim Publikum finden. Oder anders gesagt: Wie viele Songs muss ein solcher Laden im Angebot haben, um in etwa die Nachfrage des Publikums zu befriedigen? Anderson vermutete, dass etwa 10 000 bis 20 000 Titel reichen würden. Aber die Zahlen, die Rhapsody ihm lieferte, waren erstaunlich: Nicht nur die 10 000 populärsten Lieder wurden regelmäßig nachgefragt. Auch die 50 000 populärsten reichten lange nicht aus. Bis weit über Nummer 100 000 hinaus wurde jeder Song mindestens einmal im Monat heruntergeladen. Was den Wirtschaftsjournalisten auf eine neue Idee brachte: Wenn all diese Lieder in regelmäßiger Häufigkeit he runtergeladen wurden, dann waren ja die Nicht-Hits für das Geschäft genauso wichtig wie die Hits. Die Summe der Käufer, die sich für kubanischen Rap, Indierock aus Toronto, Proto- Punk-Garagenbands der 60er Jahre und andere Nischenphänomene entschieden, stach Christina, Norah und Justin aus. Zeichnet man daraus ein Schaubild, dann sieht es aus wie eine abfallende Kurve. Am Anfang zwischen Platz eins und Platz 100 ist die Nachfrage steil abfallend, dann aber immer langsamer. Bis der Strich, viel viel später erst, gegen null geht: Der »lange Schwanz« war geboren. Und damit nicht nur ein Geschäftsmodell für digitalen Handel (Erweitere dein Angebot bis ins Unendliche! Es ist ja nur Serverplatz!), sondern auch ein neuer Blick auf den Konsumenten: »Wir sind unterschiedlicher, als uns die Marketingabteilungen der Kulturindustrie glauben machen«, sagt Anderson im Interview mit NEON und klingt dabei wie eine Mischung aus Digitalguru und Theodor Adorno. »Jedermanns Geschmack weicht irgendwo vom Mainstream ab. Nur: Früher sahen wir das nicht. Heute können wir es zum ersten Mal beweisen.« Tatsächlich könnte es sein, dass die Zeiten, in der eine Million Menschen an einem Tag wie eine Rinderherde die Läden stürmte, um das gleiche Album von N'Sync zu kaufen, endgültig vorbei sind. Unsere Populärkultur ist dabei, sich zu verwandeln, in eine Welt der Mikrohits und Nischen, in der moderne Suchhilfen (Blogs, Playlisten, Empfehlungen, intelligente Ge schmacksfilter) genau so wichtig werden wie die alten Durchlauferhitzer (Hitradiostationen, MTV). Sicher, die Produkte, die weiter hinten im langen Schwanz stecken, wollen erst entdeckt werden. Das unterscheidet sie von den gesponserten Hits in der Schaufensterauslage des Media Marktes. Aber die Filter, die Methoden, sie zu entdecken, werden immer besser. Und sie werden tatsächlich genutzt: »Der Trend geht eindeutig zur Individualisierung«, äußerte der Viva-Veteran und Popkomm-Gründer Dieter Gorny. »Jeder Konsument will ›seinen‹ Künstler, und diese Einzelbedürfnisse muss die Industrie künftig bedienen. Das ist die größte Umwälzung.«
Als Folge verlieren nicht nur die Charts an Bedeutung, auch liebgewonnene Annahmen, darüber, was »Mainstream« ist, beginnen sich aufzulösen wie CDs nach 25 Jahren. Früher konnte man sich wenigstens noch sicher sein, was ein »Hit« war. In den siebziger Jahren konnte vom Kleinkind bis zur Oma jeder »Waterloo« von Abba trällern. In den 80er Jahren war das »Thriller«- Album von Michael Jackson ein Hit bei 12-Jährigen und 32-Jährigen. Und die Begrifflichkeiten waren klar: Hits wurden von der Mehrheit gehört. Sie waren »der Mainstream«. Die anderen, die in der Minderheit, waren entweder alt, hatten seltsame Frisuren oder besaßen keinen Fernseher. Manche, die keine Hits mochten, zählte man gar zum »Underground«, als handele es sich dabei um etwas Verbotenes. Heute scheint es sich um gekehrt zu verhalten. Die anderen, das sind eigentlich fast alle. Jeder mag in seiner eigenen Geschmacksnische feststecken, aber alle zu sammen bilden eine Mehrheit, die gewaltige Zielgruppe der Medlock-Ignorierer, die es zu gewinnen gilt: In der Politik stellt man die »Legitimation« in Frage, wenn eine Partei zwar die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen gewinnt, aber der größere Teil der Bürger sich gegen sie entscheiden würde. Man könnte sagen: Dieter Bohlen hat ein gewaltiges Legitimationsproblem.
Aber der lange Schwanz hat auch andere Folgen: Betrachten wir ein typisches Abendessen mit Freunden im September 2007: Alle unterhalten sich über ihre Lieblingsfernsehserien auf DVD: Lisa schwärmt von der neuesten Staffel von »Prison Break«. Richard hat bereits »Heroes« gesehen, das heiße neue Ding aus den USA. Ich gucke die fünfte Staffel von »24«, trotz Folterdebatte, es ist nun mal wie eine Droge. Christian guckt immer noch »Lost«, was die meisten anderen aufgegeben haben, also muss er mit sich alleine über die dritte Staffel reden. Michaels Geständnis, er sei völlig verrückt nach »Boston Legal« erzeugt Verwunderung. Kristin schimpft über den letzten Tatort, den außer ihr niemand gesehen hat. Um es kurz zu machen: Es kommt kein richtiges Gespräch zustande. Anstelle einer Unterhaltung entfalten sich zehn Monologe am Tisch.
Diese Situation ist typisch für eine Zeit, in der wir nicht nur bei Musik oder bei TV-Serien, sondern bei nahezu sämtlichen Kulturprodukten die Qual der Wahl haben. Und manchmal mag man sich in die Ära zurücksehnen, in der unsere Hör- und Sehgewohnheiten einfach vom begrenzten Angebot reguliert wurden. Sie liegt gar nicht weit zurück. Die Amerikaner nannten es den »Watercooler Effect«, wenn mor gens im Büro fünf Leute beim Wasserspender zusammenstanden und voller Inbrunst über die letzte Folge von »Bonanza« diskutierten. Nicht nur die Musiklandschaft verändert sich, auch das Fernsehen, das Kino: Statt ein paar großer Hits, die wie Monolithen auf der Wiese stehen, haben
wir heute überall Geröllfelder, aus denen viele mittelhohe Felsen herausragen.
Darunter leidet nicht nur die Orientierung, auch die Gesprächskultur verändert sich: Chris Anderson nennt es die »massive Parallelkultur«: Es wird aneinander vorbeigeredet, vorbeigehört, vorbeigelesen. Nach der Pluralisierung von Lebensstilen, die Soziologen verstärkt seit den 50er Jahren beobachten, schlägt der kulturelle Pluralismus erst jetzt richtig ein: Es ist eine Zeit der Verästelung, der Vertiefung des eigenen Geschmacks. Jeder sein eigener iPod-DJ. Andererseits: Große Hits hatten in der Vergangenheit immer etwas Verbindendes. Sie waren der soziale Kitt, der über alle Szenen und Milieus hinweg Generationen zusammenhielt und unversöhnliche Welten vereinte. Nur ein Lied, »Go West«, konnte es schaffen, eine Brücke zwischen Westfalenstadion und Schwulenbewegung zu schlagen. Und auch heute noch wirkt ein neues Album von Robbie Williams oder Madonna wie ein Echo aus dieser Zeit. Es ist wie ein Lagerfeuer, um das man gerne eine Weile herumsteht - zumindest hat man mal darüber geredet. Ansonsten bliebe ja nur noch das Wetter. Blockbuster und Hits werden nicht gleich verschwinden, dazu sind sie immer noch zu mächtig. Fluch der Karibik, World of Warcraft, Harry Potter. Coldplay, U2. Wir lieben es scheinbar nach wie vor, das Gleiche zu tun wie möglichst viele andere. Ebenso, wie wir es lieben, uns von anderen abzugrenzen. Seit jeher leben Jugendkulturen von der Spannung dieser beiden widerstrebenden Kräfte. Man rennt mit einer Herde - und will doch nicht sein wie alle. Der Autor Diedrich Diederichsen machte symbolische Einschlüsse und Ausschlüsse als die beiden Triebfedern der Popkultur aus: sich zusammentun und dann laut absondern - von den Idioten, den Erwachsenen, den Mächtigen. Aber diese Mechanismen funktionieren selbst innerhalb von Nischen. Vielen reicht es schon, wenn es irgendwo in den Weiten des Internet ein paar Menschen gibt, die sich für das Gleiche interessieren.
Zu Ende sein dürfte nur die Zeit, in der Charts und Hitparaden den Takt der Gegenwart vorgaben wie Diktatoren. Der Einfluss der Musikindustrie, der großen Einzelhändler und des gleichgeschalteten Hitradios, auf das, was wir hören wollen und zu hören bekommen, ist tatsächlich heute so gering wie nie zuvor. Daran können auch »DSDS« und andere letzte Rettungsversuche einer recht verzweifelten Industrie nichts ändern. »Hits und Blockbuster waren ja auch nur eine Erfindung des 20. Jahrhunderts«, sagt Chris Anderson. »Wir wurden in diesem Jahrhundert synchronisiert durch die Technologien von Radio und Fernsehen. Davor war die Kultur zerstückelt - auseinandergerissen durch geografische Entfernungen. Und heute wird sie wieder zerstückelt - durch die Unterschiedlichkeit unserer Interessen. Man könnte also sagen: Wir kehren gerade zum Normalzustand zurück.« Der Gedanke macht ein wenig traurig: Elvis und die Beatles waren Anomalien der Geschichte. Aber man kann Versöhnliches darin entdecken: Dieter Bohlen war auch nur ein Unfall.