Mir kommt es vor, als sprächen wir hier über zwei verschiedene Dinge. Zum einen turko's ursprünglichen Post und zum anderen eine hypothetische Diskussion über den Mainstream, den keiner definieren kann. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, ob ich den Begriff Mainstream oben verwendet habe, werde es aber von nun an vermeiden, denn darum geht es hier gar nicht. Es ging ursprünglich um das, was im Radio läuft. Der Mainstream ist sicherlich vielfältiger als das. Ich bezog mich mit meinen Posts auf die Musik der großen Radiosender und NICHT auf das, was man alles als Mainstream bezeichnen könnte. Außerdem habe ich den Eindruck, daß einige Mainstram so definieren: "Musik, die ich nicht mag" - das ist eine reine Geschmacksfrage und gehört hier nicht her.
Ja, ich habe den Eindruck, daß Radiomusik in den letzten 20-25 Jahren flacher und uninteressanter geworden ist. Ob es tatsächlich so ist, kann wohl niemand sagen. Da müßte man erstmal "flach" und "interessant" definieren - was aber wohl auch wieder teilweise geschmacksabhängig ist.
Dennoch versuche ich, auf turko's Thesen-Vereinigungs-Frage einzugehen, denn ich glaube zu wissen, wie er es meint. Es erscheint mir unstrittig, daß sich heute mehr Leute mit Musik beschäftigen als je zuvor. Man trifft hier im Forum ständig auf Anfänger, die es so vor einigen Jahren noch nicht gegeben hätte. Leute, die wirklich bei Null sind, sich selbst ganz offensichtlich noch nie mit ihrem Instrument beschäftigt haben - und das abgefahrene: scheinbar überhaupt kein Interesse daran haben, irgendetwas auszuprobieren. Ich versuche wirklich, die "früher war alles besser"-Leier zu vermeiden (zumal ich das für falsch halte!), aber wenn ich die heutige Jugend mit einem Wort beschreiben sollte, so wäre das unselbständig. Es wird erwartet, daß alles vorgekaut wird, man für alles Tutorials bekommt, nix mehr tun muß sondern quasi Instant-Fähigkeiten eingeimpft bekommt. Ich liebe das Beispiel aus der Fernsehwerbung (falls es noch jemand kennt, meine Kenntnisse diesbezüglich sind schon einige Jahre alt): "Kopf auf, Computer BILD rein, Kopf wieder zu". Diese Haltung begegnet mir ständig, bei Schülern, hier im Forum etc. Es ist keine Bereitschaft mehr da, einfach das Instrument zu nehmen und draufloszulärmen, selbst etwas herauszufinden, Erfahrungen zu machen, Initiative zu zeigen. Stattdessen soll alles vorverdaut und als geschmeidiger Brei eingetrichtert werden. Bald kommt der Tropf: "Talent intravenös" sozusagen.
Das war früher anders und ja, ich behaupte: besser. Mich konnten damals keine 10 Pferde vom Rumprobieren am Instrument abhalten. Klar, auch ich hatte Unterricht - jede Menge sogar - aber mindestens genau so viel Eigeninitiative. Und die habe ich mir bis heute bewahrt. Heute kommt keiner mehr auf die Idee, mal was selbst zu versuchen - ohne youtube-Anleitung. Wenn ich heute einem jungen Sänger sage "achte auch mal auf die anderen Instrumente, nicht nur auf die Stimme", werde ich angekuckt, als hätte ich 'nen nassen Hut auf.
Zu dieser Unfähigkeit, selbst etwas zu tun einerseits und den Scheuklappen andererseits, kommt noch ein dritter Punkt: die Ansicht, daß sofort alles in Reinform vorliegen müßte. so als würde ein Schriftsteller ein Buch vom ersten bis zum letzten Wort direkt richtig verfassen. Ohne was zu streichen, ohne Schreibfehler, in der perfekten Reihenfolge, der perfekten Wortwahl etc. - das fertige Produkt im ersten Entwurf. Und so ist auch die Haltung gegenüber Musik. Es wird nicht mehr als Prozeß wahrgenommen, sondern als Ergebnis. Wurde weiter oben schon von jemandem genannt.
Damit haben wir drei Dinge, die die heutige Situation negativ beeinflussen. Und die, wie ich finde, durchaus mit turko's Hypothesen zu tun haben. Die Haltung heute gegenüber Musik ist schnellebiger geworden (wie vieles andere ja auch). Korrekt, einerseits wird live bessere Soundqualität erwartet, andererseits ist die Soundqualität bei mp3s oder youtube etc. völlig untergeordnet. Da wird teilweise ein Kratzrauschknarzmatsch angehört, daß es einem die Schuhe auszieht. Leutchen hören Musik über ihre Handylautsprecher und finden das gut. Heute gibt's Möglichkeiten bezüglich der Soundqualität von denen man früher nur träumen konnte - aber sie liegen oft brach.
Und natürlich eine Lieblingsdiskussion in allen möglichen Online-Portalen: Verliert die Musik an Wert? Sie wird vom Kultur- zum Konsumgut, Alben sind tot, CDs sind tot, mp3s regieren die Welt. Man mag jetzt einen Song, den man morgen schon nicht mehr kennt und so fort. Stars werden innerhalb kürzester Zeit gemacht und verschwinden sogar noch schneller wieder von der Bildfläche. Ich denke das ist Zeichen der Zeit, ein gesellschaftliches Phänomen, mit dem wir uns eben arrangieren müssen. Es bringt nichts, der Vergangenheit hinterherzugreinen. Oder sich zu beschweren, daß man gute Musik macht, es aber keine S@u kümmert, weil alle Welt nur Bieber hört. Auf die Frage, ob er sich als politischer Kabarettist von den ganzen Comedians bedroht fühle, antwortete Volker Pispers einmal sinngemäß: "Wieso? Ein Fünf-Sterne-Restaurant fühlt sich doch auch nicht von McDonalds bedroht." Da ist was dran. Es sind zwei verschiedene Dinge - beide haben ihre Berechtigung und nehmen sich gegenseitig nix weg. Klar wünscht man sich als Musiker, daß die breite Masse besseren Geschmack hat (was auch immer das bedeutet) und wahre Musik besser zu schätzen weiß (was auch immer DAS bedeutet). Und viele von uns denken wahrscheinlich: "so einen Hit könnte ich auch schreiben, aber ich prostituier' mich nicht - dafür bedeutet mir Musik zu viel." Dann darf man aber auch nicht heulen. Kunst und schnöder Mammon waren schon immer zwei streitsüchtige Geschwister...
Ich finde also, turko's beide Thesen lassen sich durchaus vereinen. Mehr Leute als je zuvor beschäftigen sich mit Musik. Aber die Vielschichtigkeit leidet dennoch (was das Radioprogramm angeht !!!), da das Ganze immer oberflächlicher wird und immer mehr Eigeninitiative abhanden kommt (siehe meine Ansicht zu den Major Labels; Stichwort: Schadensbegrenzung). Ich glaube übrigens, daß sich diese Entwicklung auch wieder ändern wird.
Umgekehrt nimmt die Vielschichtigkeit im independent Bereich natürlich zu, da es viel mehr Möglichkeiten gibt als früher und diese auch für jedermann erschwinglich sind. Und sich dort auch eher Musiker tummeln, die lieber Musik machen wollen, als ein Star zu werden. Denn diese Entscheidung kann man heute treffen. Früher war das Musik-Aufnehmen so teuer, daß man quasi Star-werden-wollen mußte, da man einen Sponsor brauchte. Und wer für eine Aufnahme bezahlt, will natürlich auch erfolgreich damit sein - also Mainstream (oops, ist mir rausgerutscht...). Heute kost' die Aufnahme nix mehr, also kann ich machen was ich will - egal ob's jemand anders mag oder nicht. Und das öffnet natürlich Tür und Tor für jedweden Krempel - gut oder schlecht. Also ein dickes, dickes Plus für die Vielschichtigkeit hier. Aber eben im Untergrund - Zeug, das man erstmal finden muß. Während die Herausforderung beim Flachkram eher darin besteht, ihm zu entgehen...