Hey, das ist doch mal ein cooles Thema. Eigentlich schon gefühlte tausende Male diskutiert, aber eher mit Schülern, Freunden, der Dame und jetzt grade wieder mit Fremden auf der Musikmesse. Dennoch geb' ich einfach mal meinen Senf ab, auch wenn das Thema so umfangreich ist, daß ich mit Sicherheit einiges vergesse...
Zunächst ein Punkt, den ich für äußerst wichtig halte: Nichtmusiker haben hierüber meistens eine völlig andere Ansicht, man muß also aufpassen, keine Elfenbeinturm-Diskussion zu führen. Ich frage mich bei diesem Thema ständig, ob der Musiker oder der Otto-Normaler aus mir spricht
Ich würde gerne etwas ansprechen, was noch nicht genannt wurde. Meiner Ansicht nach führen die Major Labels einen wilden Kampf, in dem sie in erster Linie auf Schadensbegrenzung aus sind. Es wird nur noch das rausgebracht/vermarktet, bei dem man möglichst sicher ist, es gut verscherbeln zu können. Experimente und neue Ideen meidet man wie der Teufel das Weihwasser - weil die Verkaufszahlen ungewiß wären. Das schmälert aber logischerweise das Angebot erheblich und natürlich auch immer mehr. Gute Geschäftspolitik enthält außer Sicherheitsdenken eben auch Kreativität, Innovation und den Blick in die Zukunft. Wenn man sich ausschließlich auf Sicherheit konzentriert, sprich auf die Vergangenheit ausgerichtet ist (das, was gerade populär war als Blaupause nimmt), kommt man nicht mehr voran. Ich bin da auch anderer Meinung als viele andere, wenn es um die 80er geht. Was meinen persönlichen Geschmack anbetrifft, fand ich die 80er scheußlich. Meine geheiligten Bands damals haben plötzlich angefangen, Keyboards zu verwenden - pfui Spinne! Sakrileg! Die 80er waren meiner Meinung nach völlig verlorene Jahre, was die Musik anbetrifft. Bis ich in einer Diskussion mit einem befreundeten Schlagzeuger eines Besseren belehrt wurde. Er empfindet die 80er als revolutionäres Musik-Zeitalter. Mit der Synthesizer-Entwicklung entstand etwas völlig neues. Musik, die vorher nicht denkbar war. Und auch wenn ich mit dem Geplänkel-Kram nicht viel anfangen kann, muß ich ihm doch Recht geben, es gab einen großen Sprung, eine große Entwicklung, viel Neues.
Mittlerweile scheint die Entwicklung längst zweigeteilt zu sein. Es gibt die Musik der Großkopferten, die auf den Standard-Radiosendern rauf- und runtergedudelt wird. Und es gibt die Independent-Welt, die unglaublich vielfältiger, kreativer, interessanter ist. Dummerweise kriegt man aufgrund der Marktmacht ersteres laufend um die Ohren geschlagen, während man für letzteres selbst aktiv werden und es suchen muß. Dabei kommen noch weitere Punkte ins Spiel. Z.B. der Gewöhnungs-Effekt (hat sicher einen offiziellen Namen, kenn' ich aber nicht). Man hört etwas und mag es nicht. dann hört man es immer wieder und irgendwann fängt man tatsächlich an, es zu mögen. Das ist irgendwie beängstigend, funktioniert aber trotzdem. Ich denke, es rührt von der Prägung her. Jeder kennt das, man hört jemanden ständig irgendein bestimmtes Wort sagen, es nervt einen gewaltig......und irgendwann sagt man es selbst. Das ist ein Mechanismus unseres Hirns, wir können es nicht verhindern. Wir können uns lediglich aussuchen, wovon wir uns prägen lassen (und das auch nicht immer), indem wir uns mit Leuten umgeben, die gescheit sprechen können - oder mit Musik, die unserem eigenen Können voraus ist.
Das heißt aber, daß das ständige Bombardement mit Plätschermusik dazu führt, daß der Pauschalmensch genau diese Musik gut findet. Und er ist meistens eh zu faul, nach guter Musik zu suchen. Braucht er aber auch nicht, weil die Leute in seiner Umgebung ja genau das Gleiche gut finden - aus demselben Grund. Hier geht's dem Musiker natürlich anders. So wie sich dem Schreiner der Magen umdreht, wenn er Möbel vom Discounter sieht - oder dem Whiskey-Kenner wenn ihm jemand einen Jackie-Cola vorsetzt - so findet unsereins das Radiogedudel unerträglich. Es ist übrigens wissenschaftlich erwiesen, daß Radiohören dumm macht. Hab ich vor Jahren in einer Reportage im Radio (!) gehört. Dabei ging's um die großen Standardsender, die Stunde um Stunde dasselbe spielen und halbstündig noch die gleichen Nachrichten laufen. Durch diese Flut von immer gleichem, belanglosem Krempel stumpft unser Hirn ab.
Dann gibt's natürlich noch die Sendequoten. Der Radio-DJ ist mittlerweile einer der besch!ssensten Jobs überhaupt. Er hat keinerlei Befugnisse mehr was die Songauswahl anbetrifft. Da gibt es dann Vorgaben, die besagen, daß der neue Gaga-Song pro Stunde 2,3 mal gespielt werden muß. Und man kann sich dem nicht entziehen. Ich habe meinen Fernseher seit 7 Jahren nicht mehr ans Programm angeschlossen und seitdem auch nicht mehr ferngesehen - Radio habe ich ohnehin so gut wie nie gehört. Trotzdem weiß ich wer Adele und was Bauer sucht Frau ist. allerdings stehe ich nicht in der Flut, sondern krieg nur die Spritzer ab. Aktuelle (Fernseh- und Radio-)Werbung z.B. ist mir völlig unbekannt - man lebt entspannter...
Ich hab' vor etlichen Jahren mal mit einem alten Jazzdrummer, der seinen Lebensunterhalt abwechselnd als Rennrad- und Schlagzeugprofi verdient hat (das waren noch Lebensläufe...), zusammengespielt. Er meinte, Musik sei wie ein Baum, wie diese Stammbaumzeichnungen, die man so kennt. Es geht immer irgendwie weiter, es entstehen Abzweigungen und Verästelungen. Manche davon gehen weiter, andere sterben ab oder entwickeln sich zurück. Mal geht's vom Stamm her richtig voran und mal steckt man in einer Sackgasse, dann stirbt's ab und ein anderer Zweig übernimmt. Den Eindruck hatte ich das letzte Mal als Techno starb. Klar, Techno gibt's auch heute noch, aber es ging vom Massenphänomen zur Nische zurück. Plötzlich war alles elektronisch, nur noch Piepskram und Gutz-Gutz-Gutz-Bässe. Und auf einmal fing man an, echte Instrumente einzubauen, weil sich die Leute dran sattgehört hatten. Es entstand eine Art kleine Renaissance des Handgemachten bzw. ein Hybridgebilde aus Elektronik plus Fleisch-und-Blut.
Mittlerweile drängt sich mir der Eindruck auf, wir sind an einem toten Punkt angelangt. Es geht bei den Großen nicht mehr voran, alles verkrüppelt und schrumpft in sich zusammen. Gleichzeitig haben wir eine Subkultur, die so facettenreich ist wie nie zuvor - von der breiten Masse aber nicht wirklich erkundet wird. Der Mob glaubt zuweilen sogar, einen kleinen Hinterhofmusiker zum Star zu machen, wenn's in Wirklichkeit eine ausgeklügelte Kampagne eines Major Labels war. Da gab's doch diese youtube-Tante z.B., den Namen hab' ich vergessen, sorry.
Wo's hinführt? Keine Ahnung. Ich hätte kein Problem damit, wenn die Majors zugrunde gingen, brauchen tut sie ja heute niemand mehr, und sie stemmen sich der Entwicklung mit aller Gewalt in den Weg, versuchen um's Verrecken (im wahrsten Sinne) ihre Nützlichkeit zu behaupten. Benutzen ihren politischen Einfluß dazu, um alles andere zu unterdrücken, klein zu halten und sogar zu kriminalisieren. Behaupten, sie seien die Hüter des Urheberrechts und gängeln die eigene Kundschaft mit irgendwelchen schwachsinnigen Schutzmechanismen, die einen durch alle möglichen Reifen springen lassen, um die Ehre zu erhalten, das nutzen zu dürfen, wofür man ihnen sein sauer verdientes Geld hinterhergeschmissen hat. Mögen sie elendigst krepieren! Heute noch!
Falls überhaupt jemand bis hierher gelesen hat, einen Punkt hab ich noch. Ich finde es sehr interessant, daß wahnsinnig viele aufstrebende Bands genau versuchen, in diese Sackgasse hineinzustoßen. Sie kopieren die Großgemachten und glauben, mit einer Nickelback Kopie erfolgreich zu sein - bemitleidenswert, das.
Übrigens wurde natürlich schon jede erdenkliche Tonfolge, Melodie, Kadenz etc. komponiert. Aber das ist irrelevant. Denn (siehe z.B. Derek Sivers), eine gute Idee beinhaltet immer denjenigen, der die Idee hat als wesentlichen Teil. D.h. wenn jeder von uns von sich aus "Smoke On The Water" schreiben würde, wäre es trotzdem immer ein anderer Song. Es gibt also keinen Endpunkt ab dem sich alles wiederholen muß. Musik hat keine Grenze, die Möglichkeiten sind unendlich - falls man sein Hirn durch zu viel Radiohören nicht jeglicher Kreativität beraubt hat
Und zum Abschluß noch der Beweis, daß heute noch Musik entsteht, die niemals im Radio laufen wird
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http://soundcloud.com/audiot-eu/01-pank-pinthers (Prototyp: muß noch richtig eingesungen und abgemischt werden...)