Mal rein dialektisch gedacht, aber wenn auch nur ein großer und wirklich guter Künstler keine Ahnung von der Theorie hat, reicht es ja schon, um zu beweisen, dass man die Theorie nicht braucht, um gute Musik zu machen
Ganz überspitzt formuliert ließe sich sogar sagen, dass es nur ein sehr gutes Gehör bräuchte um Musik zu machen. Schließlich könnte man im Extremfall einfach immer alles nur heraus hören. In der Musik, die man hört ist ja alles enthalten, also Themen, Motive, Patterns, überhaupt Form, Harmonien, Instrumentation usw. Wenn man nur intensiv genug zuhören würde, würde sich im Kopf alles systematisieren, so ließe sich denken.
Mozart (der gleichwohl von frühester Kindheit an erste Unterweisungen von seinem Vater erhielt) konnte das schließlich und nachweislich ja auch
. Und sicher nicht wenige andere seiner Musiker- und Komponisten-Kollegen (und sicher auch Kolleginnen).
Aber wenn ich aus diesem Ansatz eine Methode machen wollte, hätte ich praktisch keine Schüler, zudem bei jenen, die keine Noten lesen können auch noch die Anforderung eines phänomenalen Gedächtnisses hinzu käme. (Hatte Mozart nachweislich ja auch, so what ...
)
Wahrscheinlich hätte ich selber unter solchen Prämissen nie eine Chance gehabt, Musiker zu werden. Denn leider habe ich ein sehr schlechtes Musikgedächtnis, und meine Gehör-Fähigkeiten waren zu Schulzeiten auch nicht so doll. Vor allem bei letzterem lerne ich bis heute stets dazu, und das wird (und sollte!) auch nicht aufhören, solange ich in der Lage bin, Musik zu machen, mindestens zu hören.
Das Naturtalent kann nicht zum Maßstab einer Unterrichtsmethodik dienen, vom Genie ganz zu schweigen. Wer immer mal solche extremen Spitzen-Ausreißer in seiner Schülerschaft begrüßen sollte, müsste eher aufpassen, mit seiner Methodik nichts von dieser Intuition kaputt zu machen.
Das leitet über zum nächsten Punkt:
Wenn er viel Ahnung von der Praxis hat, hat er musikalische Strukturen, Phänomene und insbesondere Zusammenhänge begriffen, er reproduziert kulturelle Traditionen und agiert und reagiert so, dass er Zustimmung von Hörern bekommt. Das alles setzt ein strukturelles Denken voraus, das man als eine Theorie beschreiben kann.
Hier sprichst du etwas an, was ich schlicht "musikalische Intuition" nennen würde. Diese würde ich bei den erwähnten Naturtalenten als besonders ausgeprägt ansehen.
Als Beispiel möchte ich den Trompeter Bix Beiderbecke anführen [
Bix Beiderbecke 1903-1931], der schon in ganz jungen Jahren in der Frühzeit des Jazz zu einem der bedeutendsten Trompeter wurde (eigentlich Kornettisten, denn das war sein eigentliches Instrument), und der sicher noch mehr Einfluss ausgeübt hätte, wenn er nicht so sehr jung gestorben wäre.
Er wollte nicht Notenlesen lernen, was ihm zwar einige Umstände bereitete - so mussten ihm Kollegen neue Themen und Melodien immer erst vorspielen, da er sie ja nicht aus Noten spielen konnte -, aber seine musikalische Intuition - und sein Gehör - reichte offensichtlich vollkommen aus, um im frühen Jazz nicht nur mitzukommen, sondern sogar Maßstäbe zu setzen. Sein Spiel war jedenfalls absolut Harmonie- und Formsicher, und innovativ war es seinerzeit auch.
View: https://www.youtube.com/watch?v=0Ue9igC7flI
Aber wie gesagt, können diese Ausnahmetalente nicht zum Prinzip einer Unterrichtsmethodik erhoben werden. Hingegen ihr Spiel, ihr Musizieren schon, denn es ist immer eine wichtige Empfehlung, sich Aufnahmen der "Großen" intensiv anzuhören, möglichst tief dort einzutauchen, ihnen zuzuhören ist einfach nur schön und lehrreich.
Denn jegliche Musik ist Klang, und hier möchte ich das Modell der "rechten und linken Hemisphäre" ins Spiel bringen - damit meine ich die gedachte Aufteilung der Gehirnhälften in eine linke - intellektuelle/analytische/"digitale" - und eine rechte - intuitive/emotionale/"analoge" Hälfte.
[Hinweis: Diese früher als relativ strikt angesehene Trennung bzw. Aufteilung der beiden Gehirnhälften, die über die sog. "Brücke" (corpus callosum) verbunden sind, gilt mittlerweile durch neuere Forschungen als überholt. Es gibt zwar jede Menge konkret lokalisierbarer "Zentren" im Gehirn, aber diese arbeiten über das Gehirn komplett verteilt je nach Input/Erregung und den konfrontierten Aufgaben sehr komplex zusammen, jedenfalls nicht in einer simplen links-rechts-Verteilung. Als Modell bediene ich mich aber zur Vereinfachung der klassischen, überholten Vorstellung.]
Während das Notenlesen, Benennen von Tönen auf dem Griffbrett, die Kenntnis von Strukturen wie Skalen, Akkorden, Formteilen usw., usw. zunächst eine Sache der analytischen linken Gehirnhälfte ist, ist das Umsetzen dieser Parameter in klingende Musik vornehmlich eine Sache der rechten Gehirnhälfte. Erst sie gibt dem Gespielten Ausdruck, Emotion und Tiefe.
Auch beim Sprechen auch so: Es gibt Sprachzentren, die für die Wortbildung, Grammatik, also Strukturen zuständig sind, und andere, die für Lautbildung, insbesondere, Betonungen, Ausdruck usw. zuständig sind - und die natürlich beim Sprechen (und Hören) zusammenarbeiten. Eine Störung der "rechten" Zentren z.B. durch sog. Mikro-Schlaganfälle kann zur Folge haben, dass der Betroffene extrem monoton und ausdruckslos spricht, und beim Hören den emotionalen Gehalt der Worte und Sätze nicht mehr erkennt.
Auf die Musik übertragen lässt sich leicht vorstellen, dass eine gute "rechte" Kompetenz und Intuition Musizierende befähigen kann, ´on top´ zu Musizieren, ausdrucksvoll zu Spielen und nicht zuletzt zu improvisieren und damit sein Publikum zu erfreuen, alles ohne tiefere
objektive Kenntnis und Erkenntnis der musikalischen Strukturen, bis hin zur Unfähigkeit, selbst Noten entziffern zu können
In der Musik sehe (und erfahre) ich es eher umgekehrt problematisch: Ein noch so technisch perfektes Spielen der - perfekt entzifferten - Noten bleibt ohne emotionale Tiefe Ausdrucks- und belanglos, es berührt die Zuhörer nicht, lässt allenfalls Erstaunen wenn extreme Virtuosität im Spiel ist.
Ein Überborden des "rechten" Anteils kann wiederum das Spiel ins Kitschige, in belanglose Gefühlsduselei abgleiten lassen, bei entsprechenden musikalischen Vorlagen.
Daher halte ich es im Übrigen für ideal, zwischen "links" und "rechts" eine gute Symbiose, eine gute Balance zu erreichen. Beide Seiten haben ihre volle Berechtigung und müssen ihre jeweiligen Anteile je nach der aufzuführenden Musik gut ausbalancieren.
Deswegen halte ich es für absolut erstrebenswert, sich über das reine "Bauchspiel" hinaus mit "Theorie", also den musikalischen Strukturen im weitesten Sinne zu beschäftigen und sich darin zu vertiefen.
Je nach dem angestrebten Ziel kann es nämlich sein, dass das "Bauchgefühl" früher oder später an seine Grenzen stößt. Hinzu kommt, dass die Zahl der "Genies" meiner Erfahrung nach recht klein, wenn nicht sehr klein ist (ich selber bin es definitiv nicht).
Und die Kenntnis von Strukturen, denen man sich zunächst unweigerlich erst mal intellektuell nähern muss (also mehr oder weniger "pauken") hilft einem, das Gehörte, das für die allermeisten erst mal und durchaus lange ziemlich "diffus" bleibt, besser zu erkennen. Im Umgang z.B. mit "Kirchentonleitern" und im Hören (!) solcher Musik sickert die Klanglichkeit dieser für viele ja erst mal abstrakten "theoretischen" Strukturen immer mehr in das Spielgefühl ein. Auch und gerade das - erkennende(!) - Hören wird dann immer besser (und definitv auch das Improvisieren).
In diesem absolut praktischen Sinne kann, soll und wird die "Theorie" auch die Intuition immer mehr vertiefen!
Das ist im Übrigen auch mein Standpunkt zum Thema "Musiktheorie für Musizierende": Sie kann und darf kein Selbstzweck sein, es geht letztlich immer um das Erleben, um den Klang!
Sich nur auf die Intutition zu verlassen, kann auch einfach zeitraubend sein, die "Theorie" kann daher auch die Wege abkürzen und helfen, seine Ziele schneller (und gründlicher) zu erreichen.
Wenn jemand aber in der Lage ist, sein(e) Ziel(e) nur qua Talent und Intuition zu erreichen unter Verzicht auf nähere theoretische Kenntnisse (wie eben Notenlesen, Benennen der Töne auf dem Griffbrett, Harmonielehre usw.), und das zu seiner vollsten Zufriedenheit (und bestenfalls auch der Zufriedenheit seines Publikums), dann habe ich nichts an dieser Vorgehensweise auszusetzen.
Mit zugepflastert meine ich die ganzen nervigen optischen Verzierungen. Beispiel:
Dein Beispiel ist eine streng kontrapunktische Form in der sich die Stimmen kreuzen. Diese Kreuzung erfordert bei der Notation diese teils umgedrehten Notenhälse. Das scheint zunächst mehr zu verwirren und wirkt für darin Unerfahrene sicher konfus. Es aber zu "glätten" und wie einen Klaviersatz mit den gleichzeitig in einer Hand gespielten Noten an einem Hals zu notieren, würde oberflächlich betrachtet das Lesen solcher Musik und Passaagen zwar erst mal vereinfachen.
Dummerweise würde diese vereinfachte Notation aber die kontrapunktische Struktur total verschleiern und den Weg zu einer sinvollen Interpreation, ja schon zu einem grundlegenden Verständnis dieser Musik verbauen.
Daher gibt es zu dieser Schreibweise hier keine Alternative, da muss jeder Interpret einfach durch.