Dann will ich mich hier mal als erster Keyboarder in diesem Thread äußern.
Für die Tastenfraktion war früher nämlich mitnichten alles besser. Okay, früher gab es gewissermaßen allerorten die Geräte, die heute als vintage und geil aufgefaßt werden. Aber genau die brachten auch so ihre Probleme mit sich.
Ich meine, was mußte man damals als Keyboarder in einer Rockband alles an Material auffahren? Die Instrumente waren damals noch wesentlich spezialisierter als heute, deswegen brauchte man für die meisten Klangkategorien jeweils mindestens ein eigenes Instrument.
Für Orgelsachen brauchte man eine Hammond B-3 oder C-3. Um die hörbar zu machen, brauchte man einen Amp ein Rotorkabinett. Leslie 122. Das Ding ist voluminöser und wohl auch schwerer als ein Fullstack und kann auch nicht in drei Häppchen getragen und transportiert werden. Die Orgel war noch schwerer. Es gab Mitte, Ende der 60er auch schon elektronische Comboorgeln, die waren kleiner und leichter und hatten klappbare Beine, aber die klangen dünner und röhrten und kreischten nicht so schön wie eine echte Hammond durch ein echtes Leslie. Die Combos von Farfisa, Vox & Co. konnte man nur nehmen für gewisse Prog-Geschichten, Psychedelia und Surfmusik. Hardrock à la Deep Purple und Art Rock à la Procol Harum oder Pink Floyd verlangte nach einer Hammond. Im Extremfall brauchte man sowohl eine Hammond als auch eine Comboorgel.
Dann brauchte man ein E-Piano. Rhodes Suitcase. Oder Wurlitzer 200 A. Manche Coverbands machten es erforderlich, beide zu haben.
Dann ein Mellotron, das auch nur drei Sounds konnte (die riesigen zweimanualigen konnten sechs), das man aber vor allem für Streicher brauchte, evtl. auch für Flöten ("Strawberry Fields Forever", "Stairway To Heaven" etc.) oder Chöre. Dann ein Hohner Clavinet D6. Damit umgab man sich schon mal mit vier bis sechs großen Kisten mit Tasten. Ein eventuell vorhandenes Klavier wurde dann auch noch mit in die Burg geschoben.
Heute könnte man das ganze Gelumpe inklusive Verstärkung mit einem einzigen Clavia Nord Stage ersetzen – und noch mehr.
Aber damit war das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Dann kamen nämlich die Synthesizer. Der Synth überhaupt war damals natürlich der Minimoog. Der klang von allen am besten, war aber teuer. Und trotzdem brauchte man mitunter mehrere davon, was daran lag, daß er keinerlei Speicher für Klangeinstellungen hat. Wenn man einen anderen Sound wollte, konnte man nicht einfach auf einen Knopf drücken, und zack, klang das Teil anders. Man mußte jeden Parameter per Hand einstellen und feinjustieren. Und ein Minimoog – so kompakt er auch ist – hat mehr Bedienelemente, als man damals an Gitarre, Effekten und Amp zusammen hatte. Für einen anderen Sound brauchte man schon mal mehrere Minuten. Die hatte man beim Gig aber nicht. Also brauchte man für jeden Sound vom Minimoog jeweils einen eigenen Minimoog, der auf diesen Sound voreingestellt war. So Leute wie Rick Wakeman traten schon mal mit vier oder mehr Minimoogs auf.
Um 1972 kamen die ersten presetbasierten Synths auf, z. B. ARP Soloist oder Moog Satellite, dafür gedacht, oben auf eine Hammond gestellt zu werden. Die hatten mechanische Druckschalter, mit denen ein paar voreingestellte Sounds aufgerufen werden konnten, und sie waren billiger als ihre voll einstellbaren Geschwister. Die waren aber weder so flexibel wie ein Minimoog oder ein ARP Odyssey (vom sündhaft teuren und ziemlich komplexen ARP 2600 will ich mal nicht reden), noch klangen sie so geil. Tony Banks von Genesis hatte damals nur deshalb einen ARP ProSoloist, weil er sich den Minimoog, den er eigentlich haben wollte, nie leisten konnte. Auch das RMI Electra-Piano, das nur durch eine ganze Batterie von Gitarrentretminen ansehnlich zum Klingen zu bringen war, war ein Surrogat für ein Rhodes oder gar einen Konzertflügel.
In den frühen 70ern hat man als gut genug ausgestatteter Keyboarder sechs bis acht Quadratmeter auf der Bühne beansprucht, um da eine halbe Tonne an Keyboards im Wert eines neuen Mercedes um sich zu drapieren. Wenn weder die Band noch der Laden, in dem man spielte, eine PA hatte (und welche Band hatte Anfang der 70er eine eigene PA), brauchte man dann auch noch Platz für die ganzen Amps – für das Leslie sowieso. Im Prinzip dieselben Möglichkeiten und noch viel mehr hat man heute mit einem einzelnen Instrument, das keine 1000 € mehr kostet und unter 10 kg wiegt.
Besserung kam nur allmählich und kleckerweise und war auch nicht immer das Wahre. Das Mellotron wurde ab Mitte der 70er als Strings-Lieferant verdrängt von Stringmachines wie Solina String Ensemble oder Logan/Hohner String Melody. Die klangen zwar nicht wie ein Mellotron, aber für Strings waren sie besser geeignet.
Ende der 70er kamen Polysynths und Multikeyboards auf. Die Polysynths hätten so einiges ersetzen können, eventuell auch gleich wieder die Stringmachines. Der Yamaha CS80 hatte acht Stimmen, einiges an Presets und vier "Analog-Speicherplätze" in Form von Minifadern unter einer Klappe. Aber er wog zwei Zentner, und ich schätze, zu seinem Preis bekam man auch einen neuen Opel Rekord. Kurz darauf kam der Sequential Circuits Prophet-5 auf, der als erster wirklich das Abspeichern und Wiederaufrufen von Soundeinstellungen erlaubte. Viel billiger war der aber nicht, und besonders die populäre zweite Revision neigte beim Transport zu Hardwareschäden. Auch noch 1979 brachte Oberheim den OB-X, der im Prinzip vier, sechs oder acht SEMs unter einer einzigen gemeinsamen Bedienoberfläche mit Speicher vereinigte. Die SEM-Technik wurde ihm aber live zum Verhängnis, weil er extrem zum Verstimmen neigte – und teuer war er sowieso, genau wie alle anderen Polysynths, bis Korg 1981 den Polysix rausbrachte.
Wer sich einen Polysynth nicht leisten konnte – und wer konnte das schon, wenn er keine Goldenen Schallplatten an der Wand hängen hatte –, liebäugelte eher mit einem der Multikeyboards. Mit ihren diversen Klangerzeugungssektionen versprachen sie, auf einen Satz mindestens die halbe Keyboardburg ersetzen zu können. Die konnten viel, ja, aber nichts wirklich gut. Die Orgelsektionen konnten einer Hammond nie das Wasser reichen, der voll einstellbare Monosynth war auf dem Niveau des billigsten Monosynth aus dem Hause, die polyphonen Presets (Brass etc.) klangen cheesy, um nicht zu sagen, die waren Käse, dito die pianomäßig perkussiven Presetsounds, die selbst an billige E-Pianos nicht ranreichten, von einem echten Rhodes oder Wurly ganz zu schweigen; höchstens die Strings taugten vielleicht noch was. So wirklich billig waren Multikeyboards auch nicht.
Gleichzeitig wurde die Musik, die man coverte, um 1980 herum auch immer komplizierter, weil die großen Musiker und Produzenten das Budget für immer aufwendigeres Equipment hatten. Die sammelten regelrecht die großen Polysynth-Schlachtschiffe, die um 1978 bis 1981 rauskamen, und stellten dazu computerbasierte Systeme wie Fairlight CMI oder NED Synclavier für 100.000 $ und mehr. Der Maßstab für Keyboarder hieß nicht mehr Jon Lord, nicht mehr Ray Manzarek, nicht mal Rick Wakeman, sondern Trevor Horn.
Wirklich besser wurde es so Mitte der 80er, als man mit relativ wenig japanischem Equipment schon einiges reißen konnte. Viele hatten damals einen der Budget-Polysynths (Korg Polysix, Roland Juno-60, Roland Juno-106). Wenn man die 5000 Mark aufbringen konnte, leistete man sich dazu einen Yamaha DX7, den man nicht selten durch Verkauf des Rhodes finanziert hat. Für Einsteiger war das natürlich schwieriger; die mußten mit dem kastrierten DX9 vorlieb nehmen, oder wenn sie später kamen, einem DX27 oder gar DX100. Immerhin konnte der DX7 als E-Piano glänzen und auch einigermaßen als Orgelsurrogat fungieren, sofern man nicht mehr als sechs Fußlagen brauchte. Aber preislich war er damals schon Mittelklasse wie der immer noch analoge Roland JX-8P und der hybride Korg DW-8000. So manch ein Keyboarder trat damals nur mit einem DX7 auf, einmal, weil er sich selbst einredete, daß der ja soviel so gut kann, außerdem, weil der alleine schon teuer genug und ein zusätzlicher Analogsynth nicht mehr drin war. Sein Glück war, daß damals bei gefühlt jeder zweiten Musikproduktion ein DX7 zum Einsatz kam, er also die entsprechenden Sounds schon am Start hatte.
Vergleichsweise golden wurden die Zeiten für Bandkeyboarder ab Ende der 80er, als sich in allen Preisklassen japanische Rompler und ab der Mittelklasse Workstations durchsetzten, die klanglich so vielseitig waren, wie es die Multikeyboards gern gewesen wären – und erstmals einigermaßen überzeugend auch akustische Pianos nachahmen konnten. Gleichzeitig krähte damals noch kein Hahn nach der authentischen Reproduktion von heutigen Vintage-Instrumenten wie Hammond oder Rhodes. Damals schien es, als hätte eine Viertelmillion Keyboarder in der Korg M1 den Heiligen Gral gefunden.
Für die Visionäre unter den Synthesizer-Nerds waren die späten 80er schon deshalb besser als die heutige Zeit, weil viele geile Analogsynthesizer, für die heute irrwitzige Sammlerpreise gezahlt werden, damals fast wertlos oder zumindest spottbillig waren, weil alle Welt geil auf japanische Rompler war und selbst nach so Monstern wie Roland Jupiter-8 oder Oberheim OB-Xa kaum Nachfrage bestand. Für so manche Synthesizersammlung wurde damals der Grundstein gelegt.
Wohlgemerkt, das Geschilderte beschreibt nur das Schicksal des Keyboarders in der Liveband. Von Homeproducing will ich gar nicht erst reden. Heute fährt man ja ganze Produktionen mit hundert oder mehr Spuren bis hin zum Mastering auf einem Laptop oder iPad. Bis in die 90er mußte man aber alleine schon eine Menge Platz und Geld aufwenden für die Instrumente (allesamt Hardware), Effekte (Hardware), ein Mischpult (Hardware) und eine oder mehrere Bandmaschinen (Hardware).
Einer der ersten Homeproducers im Bereich der elektronischen Musik war Jean Michel Jarre. Der stellte damals in seiner Pariser Wohnung die Küche mit elektronischen Gerätschaften voll. Ein paar Synthesizer – vor allem der ARP 2600 fraß Platz –, zwei, drei elektronische Orgeln, eine modifizierte Drummachine, ein eigens für ihn gebauter Sequencer mit mehr Rauminhalt als ein Gefrierschrank, Mischpult, Effekte, mindestens drei Bandmaschinen (eine dicke Studer A 820, und weil er nur eine hatte, konnte er auch nicht mehr als acht Spuren nebeneinander fahren, außerdem zwei Revox B77, die er zusammen als Stereo-Banddelay verwendete). Er brauchte einige Jahre und diverse Auftragsproduktionen, u. a. als Texter, Komponist und Producer in der französischen Chanson-Szene, um sich das ganze Zeug zusammenzufinanzieren. So produzierte er in seiner Küche seinen Millionseller Oxygène vor – der endgültige Mix und das Mastering geschahen in einem professionellen Studio – und verjagte mutmaßlich sogar noch seine erste Frau, ungeachtet der Unmengen an Scheiben, die er zu dem Zeitpunkt bereits verkauft hatte.
Im Vergleich zu dem, was mit diesem Equipment möglich war, kann man heute mit einem praktisch beliebigen Laptop auf dem Küchentisch um ein gigantisches Vielfaches mehr machen.
Martman