@Guvnor
Was mir bei deinen bisherigen Erläuterungen immer wieder auffällt ist, dass du deine Kritik seltener unter konkreten musikalischen Gesichtspunkten formulierst, sondern viel häufiger mit der Haltung, die du dahinter vermutest: Dass du den Interpreten unterstellst, sie würden übertreiben, nur um gewollt anders zu sein oder wie du es sagst "(pseudo-)künstlerischer" die Übertreibung "als Selbstzweck nur der Übertreibung wegen" einsetzen und sich selbst "zu wichtig nehmen".
Damit ist eine Interpretation, deren Phrasierung und Variationsgrad für dich dann übertrieben, wenn du oben genannte Absicht dahinter zu erkennen glaubst. Die ist natürlich unbelegbar und somit ist diese Einschätzung selbst bereits eine (Über?)interpretation.
Ich komme da wieder auf Dolly Parton vs. Whitney Houston zurück, weil es das erste war, was mir nach deiner ersten Beschreibung in den Sinn kam. Obwohl mir die Version von Houston mit all den Ad libs und der starken Dynamik und der Tonmodulation zu übertrieben ist, so tut sie das mMn nicht, um bewusst "künstlerisch" zu wirken oder zu "überinterpretieren", sondern a) um den Song in ein adäquates, den 90erjahren (und der Filmdramaturgie) kommerziell entsprechendes Gewand zu kleiden und b) aus dem gleichen Grund, warum sich der Hund die Eier leckt: weil sie es konnte.
Und das ist das Stichwort, um auf dein eigenes Demo-Beispiel zurückzukommen, was meiner Meinung nach noch nicht ausreichend gewürdigt wurde. Danke daher zunächst für den Mut und die Mühe (ohne jegliche Ironie).
2. Erste Strophe von One Of Us - so wie ich es singen wuerde
3. Erste Strophe von One Of Us - so wie ich es schlimm finde
4. Erste Strophe von One Of Us - so wie ich es schlimm finde, zum zweiten
Die ersten Strophen sind den geschilderten Umständen entsprechend überzeugend und souverän gesungen. Es ist eine deinen Fähigkeiten und deiner Stimme angemessene und durchaus gelungene und dennoch eigene Interpretation - völlig egal, ob und wie weit sich Phrasierung und Co am Original orientieren oder nicht. Der Rest ist natürlich misslungen. Aber nicht wegen der vermeintlich übertriebenen Interpretation, sondern hauptsächlich, weil du die Kontrolle über das Timing, Tempo, die Koordination und die Intonation verlierst. Das sollte natürlich bei keiner Art der Interpretation passieren. Was du dadurch also eigentlich illustrierst, ist nicht die Übertreibung, sondern einen schlechten Sänger/Musiker. Hättest du diese Stellen ähnlich routiniert umgesetzt bzw. umsetzen können wie den Anfang, hätte es auch gut bzw ganz normal geklungen.
Meiner Ansicht nach kann es sowas wie "Überinterpretation" oder "pseudo-künstlerisch" daher gar nicht geben, solange jeder das tut, was er gut kann (innerhalb des jeweiligen Kontexts). Schmerzhaft wird es nur, wenn jemand diese Grenzen verlässt. Der Rest ist - wie wir alle wissen und auch hier schon mehrere Male festgestellt haben - wieder mal eine Frage der persönlichen Präferenzen, aber auch Differenzierungsmöglichkeiten.
Das ist ähnlich wie bei einer Fremdsprache: Wer (nur als Beispiel, weil das hier am Rande schon thematisiert wurde) viel Soul oder Jazz hört, für den sind Dynamik, viele Ad-Libs oder variantenreiche Phrasierungen nichts Ungewöhnliches, sondern normaler Teil einer ihm völlig vertrauten Sprache. Wie für einen Russen das Russische. Wer diese Fremdsprache nicht kennt, für den klingt sie hart, martialisch und abgehakt. Und solange er diese Sprache nicht lernt, kann er sie auch nicht differenziert wahrnehmen und wird die Sprache weiterhin ablehnen und ganz allgemein als hart und abgehakt empfinden.
Am Ende ist es also nicht nur eine Geschmacksfrage, sondern durchaus auch eine Frage der Gewohnheit oder in wieweit man bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Dazu wiederum ist niemand gezwungen. Man darf Dinge auch einfach so "scheiße finden" und sich nicht damit auseinandersetzen. Das Recht nehme ich mir selbst auch raus. Allerdings - und das wäre dann wohl ein Unterschied in unseren Auffassungen – würde ich mich nicht bemühen, dieses Urteil mit Argumenten und eigenen, ebenfalls interpretationswürdigen Wortschöpfungen und Mutmaßungen zu erläutern. Wenn ich etwas blöde finde, finde es halt blöde. Das muss ich nicht erklären. Es sei denn, ich hätte tatsächlich trifftige und überzeugende Argumente. Aber die wiederum könnte ich nur differenziert formulieren, wenn ich mich intensiv damit beschäftigt hätte.
Sorry für den langen Text.