@B.B ich glaube der Verweis auf die Musiktradition in Indien liefert sehr wichtige Aussagen! An erster Stelle: "Licks" lernen ist vor allem ein Lernen am direkten Modell, eventuell mit sozialer Hilfe. Die Lick-Sammlungen sind ja - wenn ich mich richitg erinnere - erst mit der Akademisierung von Jazz et cetera entstanden. Vorher gab es "sit ins" mit Menschen, heute ersetzt durch YouTube ...
Das ist eigentlich eine gute wissenschafliche Forschungsfrage: Die Akademisierung des Jazz beginnt ja relative spät. So ich mich richtig erinnere tauchen die ersten dedizierten Jazz-Studiengänge in den USA auch erst in den 60ern gehäuft auf. Das vll erste genuin Jazzspezifische Theoriewert ist womöglich George Russels "Lydian Chromatic Concept of Tonal Organization". Das Berklee College hieß früher Schillinger Music School, Joseph Schillinger war ein klassische Ausgebildeter aus Russland emmigrierter Komponist. Das Lydian Chromatic Concept greift womöglich Ansätze von Slonimsky, Ravel, Debussy, Skrjabin und Messiaen auf, Leute die in irgendeiner Form mit Skalen rumprobiert haben, gegenüber klassischen Tonsatz und Kontrapunkt. Für die akademisierung ist das insofern spannend, weil sich der Akkord-Skalen Ansatz so sehr durchgesetzt hat, wie er heute noch an den meisten Unis gelehrt (auch in Berklee z.b.) und in vielen Büchern (Frank Sikora, Matthias Löffler) anzutreffen ist. So auch bei den frühen Jazz-Eduction Materialien von z.b Jerry Coker, David Baker oder Jaemey Aebersold. Grade letzteres ist ja eine auch auf Autodidakten ausgerichtetet Serie von Lehrwerken aus der Prä-Youtube Ära. Ich galube das erste Heft stammt aus Ende der Siebziger. Das dort didaktisch aufbereitete Konzept von "Licks" hat aber, wenn man ein bischen transkribiert, nicht unbedingt so viel mit dem zu tun was "eche Jazzer" auf "echten Platten" spielen. Ich denke man lehnt sich auch nicht allzuweit aus dem Fenster, wenn man sagt, in der Bebop-Ära hat der Skalenansatz noch keine so große Rolle gespielt. Für Alben wie Milestones und insbesondere Kind of Blue und die folgende Ära, bis weit in den Fusion-Bereich hinen dafür eine zunehmen stärkere. Es gibt auch frühere Beispiele von Modalität (Cubano Be Cubano Bop von Dizzy Gillespie, Ahmad Jamal "Pavane") aber Ende der 50er nimmt es eben Richtig fahrt auf. Das selbe ist imho beim Thema Blues beobachtbar. Jeder, aber wirklich fast jeder, Youtuber lehrt fast auschließlich auf Basis der Moll-Pentatonik, zumindest zu Beginn. Wenn ich mir ansehe was Leute wie B.B. King (und Albert und Freddie) , T-Bone, Walker, Chuck Berry, etc etc tatsächlich so spielen, dann ist da eine Menge 9 und 6 mit dabei, sowie beide Terzen, also letztlich eine Mischung aus Dur und Moll Pentatonik, bzw eine Mischung aus Dorisch und Mixolydisch. Und selbst das ist oft noch nicht das ganze Bild, stichwort chromatische Umspielungen. Ich glaube es gibt also durchaus die Tendenz, das Feiheiten zwecks didaktischer aufbereitung verloren gehen.
Und im Falle von Youtube ist es imho leider so, dass die ökonomische Verwertbarkeit zunehmend den Content bestimmt. Die Leute wollen kleine leicht verdaubare Einheiten von überschaubarer Komplexität, die das schnelle Erfolgserlebnis und den damit zusammenhängenden Dopaminschub triggern, am besten eingebettet in ein gut produziertes Video mit etwas Story drumrum, präsentiert von einer persönlichkeit mit der man sich bei Bedarf auch noch privat identifizieren kann. Mit Marx gesprochen: Es ist nicht die primäre Aufgabe von Youtubern, dich zu einem kompletteren Gitarristen zu machen, sondern Klicks und damit Werbeeinnahmen zu generieren. Erst wenn die Erfüllung von Bedürfnissen relevant ist, um sich gegenüber anderen einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, wird diese zum Inhalt, sie ist aber nicht der eigentliche Treiber des ganzen. Zumindest geht die Tendenz immer mehr in diese Richtung und die Zeiten in denen man Ratschläge (bei Gear ist es weit schlimmer als bei Theorie/lessons, drum ist das wohl auch der größere Sektor) bekommen hat die nicht in irgendeinerweiße Weise vermarktbar geworden sind, sind weitgehend rum. *Kulturpessimismus Ende*
Zu den Indern: Ich glaube, essentiell ist, das es eben eine rein mündliche und keine schriftliche Vermittlung ist. Bei uns im "Westen" ist ja in der klassischen Vorstellung oft "Die Partitur das Werk" Unser Werkbegriff ist stark abhängig von der Verschriftlichung. Das trifft jetzt vll für die Rock/Pop Musik nicht so ganz unmittelbar zu, aber Tabs sind ja letztlich auch eine Art der Verschriftlichung. Das Verhältnis von Improvisation und Komposition bei den alten Meistern wie Bach, Mozart, Beethoven ist eigentlich interessant, von allen ist bekannt, dass sie sehr gut improvisiert haben, aber man hört davon in der Regel nichts, wenn man nicht geziehlt Literatur dazu heranzieht. Ich glaube, wie vieles in unserer Kultur, fußt unser heutiges Verständnis von Komponieren da auf Vorstellungen des 19 Jhdt. So sehr nämlich, das wir heute das Interpretieren etwas bereits bestehendem der "hohen Kultur" zurechnen, während man in Indien davon eher gelangweilt ist und die hohe Kunst vll eher darin sieht das jemand eine Idee ( so wie bei Platon) manifestiert. Nämlich ein Raga, ein Abstraktes Konstrukt, das zwar Regeln hat und gewisse Vorgaben, aber das in keiner Weise genau festgelegt ist. Der Musiker versteht sich mitunter quasi als eine Art Medium, durch den (und dessn konkreterInterpretation) diese, immer schon dagewesen musikalische Struktur, in ein konkretes Klangereignis umgesetzt wird. Also vll ein etwas prozesshafterer Werkbegriff, denn jede Aufführung wirkt wieder in die Vorstellung wie den Raga XY zu klingen hat zurück und formt diese Vorstellung.
In gewisserweiße ist auch der Blues dahingehend in einem Wandel, so empfinde ich das jedenfalls (Man muss nur mal in Joe Bonamassas Merchendise-Shop schauen)
Was aber die indische Musikd und Blues gemeinsam haben, ist, das beides in gewisserweiße repetitiv ist. Auch wenn klassische indische Musik sehr komplex ist, wiederholen sich doch gewisse Inhalte ständig. Es gibt nicht unbedingt ein Streben zu einem Ziel hin, wie in einer Sonate, wo dann in der Durchführung entwickelt wird und dann arbeitet man sich zu einem satten Schlussakkord hin, und hat ein lineares Streben voller männlicher Tatenkraft
wie es oft im Zusammenhang mit Beethoven heraufbeschworen wird.
Das Ziel ist glaube ich in beiden Musiken, das man das limitierte Material stets neu verpackt und in neuen Zusammenhang setzt, rhythmisch und bezüglich der Phrasierung variiert etc. Es ist in gewisserweiße die Kunst vergleichsweiße wenig Ausgangsmaterial stets spannend zu halten. Dafür ist es quasi zwingend erforderlich, dass man dieses Material frei kombinieren kann, denn eine ganze Performance aus vorab erlernten Licks kann diese Anforderung unmöglich erfüllen.
puhh, ganz schön viel geworden.
grüße B.B