Wenn ich die Diskussion mal so revue passieren lasse:
Es erstaunt mich immer wieder, dass Leute geneigt sind, aus Sachentscheidungen eine persönliche Auseinandersetzung zu machen. Tatsache ist: Verstärkungskonzepte sind so unterschiedlich wie Musiker - absolut individuell. Keines ist besser oder schlechter als ein anderes. Die entscheidende Frage ist nur: ist dieses Konzept für MICH und MEINE Musik richtig?
Und "richtig" muss nicht heissen: "vernünftig". Ich meine: wir reden über Musik, oder? Hier geht's nicht um Vernunft, sondern um Gefühl. "Inspiriert mich" oder "macht mich geil" oder sind absolut legitime und ernstzunehmende Argumente. Rock ist Posing - zu 90% oder mehr. Tattoos, Frisuren, Klamotten, Autos, Gitarren, Amps, Texte, Lautstärke: Pose! Und auch die Entscheidung: "ich will keinen Amp, ich nehm den Multieffekt" ist u.U. eine Pose: wenn man sich einen Ast drüber freut, dem staunenden Mitmucker erklären zu können, dass der Megasound "aus dieser kleinen Büchse" kommt.
UND DAS IST OKAY SO!
Mit Verstand betrachtet: Im Recording ist die Digitalsimulation konkurrenzlos, weil sie immens Zeit und damit Kosten spart. Das ist Business, da redet man über Geld. Mit einem Amp (oder mehreren) darf da nur noch jemand anrücken, der als Vollprofi bekannt ist und GENAU weiss, was er tut, und wie er welchen Sound erzeugt. Oder er wird für genau diesen, seinen Sound gebucht.
Im Live-Betrieb ist die Digital-Simulation auch überall dort konkurrenzlos, wo es darum geht, viele verschiedene Sounds zu angemessenen Kosten (auch Transport, Aufbau, etc.) band-dienlich zu präsentieren. Im Bereich Pop, Tanzmucke, Coverband, Gala etc. muss man für den Einsatz eines Röhrenamps schon wirklich gute Gründe haben. Mir fällt keiner ein.
In beiden Fällen ist der Anspruch des "Kunden" (Publikum, Veranstalter, Produzent) für die Wahl des Werkzeugs entscheidend. Als Mucker stellt man seinen eigenen Geschmack hinter das Preis-Leistung-Verhältnis - und damit sein eigenes Einkommen - zurück.
In anderen Bereichen gelten aber andere Gesetze. Wer Musik nicht reproduktiv, sondern kreativ angeht, wer sich als Amateur in erster Linie selbst verwirklichen will, wer nicht sein Portemonnaie, sondern sein Gemüt befriedigen will, der kann in einem Röhrenamp absolute Erfüllung finden. Sogar, wenn er nur einen Sound hat, an schlechten Tagen brummt wie ein Maikäfer, sechs Tonnen wiegt und eigentlich für alles zu laut ist.
Dazu kommt, dass in bestimmten Bereichen auch ein Röhrenamp ganz schlicht und spiessig die Erwartungshaltung des Publikums, der Mitmusiker, etc. erfüllt. Im Blues, Punk, Hardrock, Metal und anderen Bereichen gehören die Dinger einfach auf die Bühne, sonst fehlt was. Meinetwegen nennt es auch Imponierhaltung, Schwanzverlängerung, Ego-Booster oder Posing - es gehört dazu. Paradoxerweise auch in der Verweigerung - siehe oben.
Ich selbst find's zum Beispiel geil, meinen Röhren-Einkanaler, der einen Wahnsinns-Ton raushaut, markentechnisch völlig unkenntlich gemacht zu haben. Wenn die Abordnung der Muckerpolizei verstohlen drumrumläuft und versucht, das Ding zu identifizieren, geht mir einer ab. Das ist vielleicht kein guter Charakterzug und hat nix mit Vernunft zu tun, aber es stachelt mich zusätzlich an, gibt mir eine Beziehung zu meinem Amp und vermittelt mir ein besonderes Gefühl für meine Musik. Bei anderen mag das für "ihren" Marshall, "ihren" Bassman, "Ihren" Rectifier etc. gelten. Und wenn's ein Grossserienteil ist, das auf jeder dritten Bühne steht, dann ist es vielleicht sogar die Anpassung und das Mitschwimmen mit der Masse, die ein gutes Gefühl vermitteln. Auch okay.
"Vernünftige" Gründe für Röhrenamps mit mehr als 50 Watt gibt es nicht. Das sind Dinosaurier, die für alles andere als den heutigen Musik-Betrieb konzipiert sind. Das Pendant zum Marshall-Fullstack ist in der Auto-Industrie ... sagen wir mal: der Opel Admiral. Zu seiner Zeit respektabel und aufsehenerregend. Heute eher was für Liebhaber und aus gutem Grund vom Markt verschwunden. Der Unterschied zwischen Marshall und Opel ist, das Marshall die alten Konzepte immer wieder hervorkramen kann und den Oldtimer-Markt mit Neuauflagen bedient. Opel kann das nicht. Erstens, weil keiner so dumm wäre, ein Auto mit Sechziger-Jahre-Technik zum Neuwagenpreis zu kaufen. Zweitens, weil das Teil keinerlei Sicherheits-, Abgas-, etc.- Normen mehr erfüllen würde. Komischerweise funktioniert es aber bei uns Musikern.
Wir Amateure können es uns leisten, über Geschmack zu streiten. Aber bitte nicht immer über den der anderen. Ich find's fairer, wenn man dabei bleibt, sich zu fragen: "Gefällt's MIR?" anstatt Entscheidungen anderer grundsätzlich zur kritisieren oder in Frage zu stellen. Und ehrlicher, wenn man dazu steht, dass manche Dinge - grade unter Künstlern!! - nicht über den Kopf entschieden werden. (Eigentlich werden Entscheidungen nur sehr selten mit Hilfe des Verstandes getroffen, sondern im Normalfall nur nachträglich rationalisiert. Gelernte Verkäufer und Werber wissen das und nutzen es aus - aber das ist eine andere Geschichte.)
Letztlich sind wir alle ständig auf der Suche.