Ich will aber auch nochmal
Wir sind ja hier im E-Gitarren-Forum, und darauf beschränke ich mich jetzt einfach mal. Positiv formuliert sehe ich das so: Die E-Gitarre ist eins der (ganz wenigen) Instrumente, die sich für Melodie, Harmonie und Rhythmus einsetzen lassen - und auch noch eines der (ganz wenigen) Instrumente, auf denen man es ohne Notenkenntnisse (by the way auch ohne musiktheoretische Kenntnisse, aber das ist offtopic und soll hier nicht weiter verfolgt werden) recht weit bringen kann.
Dieses Statement mal zerpflückt:
1) Melodie/Harmonie/Rhythmus - wir spielen hier ein sehr vielseitiges Instrument. Vom tollen Solo, das dank Effekten und Spielart der Ausdruckskraft der menschlichen Stimme nahekommt über Harmonie/Akkorde/Begleitung die irgendwas zwischen Harfe und Klavier und Bass sein können bis hin zu chunka-chunka-Rhythmen/Mutes/etc. Toll! Super! Genial! Aber eben auch - da geht viel mehr als "nur der richtige Ton in der richtigen Lautstärke in der richtigen Länge". Gitarre aufschreiben ist nicht einfach, egal wie.
2) Ohne Notenkenntnisse - es geht halt. Weil (!) die E-Gitarre ein sehr sehr populäres Instrument ist, ein cooles Instrument, Rockstars spielen sowas seit 60 Jahren, sie ist aus der aktuellen Rockmusik (zum Glück...) auch noch nicht wegzudenken, sie läuft täglich im Radio, sie ist günstig zu erwerben - was braucht es mehr für eine hohe Kauf- und Ich-Will-Lernen-Motivation? Weil aber viele Leute spielen bzw. lernen wollen, gibt es eben viele Bücher, Tabs. Lehrvideos, die einem "eben mal schnell" (und oft auch gar nicht so schlecht) was beibringen. Und es macht einfach verdammt viel Spaß, schnell (!) nach einer guten Anleitung mal eben ein Stück zu lernen, die Fortschritte direkt zu spüren, was zeigen zu können... geht halt fix! Geht aber nur, weil die E-Gitarre ein so verdammt beliebtes Instrument ist.
3) Recht weit bringen - ich finde es müßig, jetzt die ganzen großen E-Gitarristen ohne Notenkenntnisse aufzuzählen... gibt halt jede Menge.
Insofern halte ich die Gitarre für ein bisschen einen Sonderfall. Die Rahmenbedingungen aus Vielseitigkeit und Beliebtheit sind halt mal da, der Beweis, dass es ohne Noten geht, wird durch diverse Stars immer wieder erneuert.
Und nu?
Um mal bei mir zu bleiben: Ich habe in jungen Jahren keine Noten lernen wollen. Ich wollte Rock und Pop und Blues spielen, nicht die Trallala-Kirchenlieder oder die Klassiker, die mir damals mein verstaubter Gitarrenlehrer - wohlgemerkt der einzig verfügbare in meinem Kaff - mittels Notenschrift beibiegen wollte. Also Unterricht gestoppt, Gitarre erstmal in die Ecke gestellt... und ein paar Jahre später wieder rausgeholt, paar Tab-Bücher gekauft und SEHR VIEL SPASS gehabt. Weiter geübt, dilettantisch natürlich, und mir einen Grundstock an Kenntnissen erarbeitet.
Achtung, wichtiger Satz: Für mich reicht's.
Ich kann keine Noten lesen, habe rudimentärstes Verständnis von Harmonielehre und weiterer Musiktheorie, aber für das, was ich mache und machen will, ist das nicht weiter schlimm. Ich spiele Gitarre als Hobby, ich spiele Blues, bisschen Rock und Funk und Soul und Folk. Ich spiele keinen Jazz. Ich spiele keine Klassik. Ich will auch keinen Jazz und keine Klassik spielen. Ich spiele auch keinen ProgRock oder irgendwas Experimentelles. Ich klampfe halt ein bisschen rum und spiele in Hobbybands mit ein bisschen Anspruch.
Im Nachinein hätte ich als Kind damals Noten lernen sollen, dann wäre ich heute besser/weiter, vielleicht sogar glücklicher - aber Zeitreisen gibt's nicht, die Entscheidung habe ich vor 30 Jahren getroffen, bisschen spät das zu ändern. Für das, was ich mache, bin ich so wirklich happy - es reicht eben. Für mich, ganz individuell. Ich habe auch heute keine Lust, mich da reinzufuchsen. Und einen Job und eine Familie, und Gitarre ist halt "nur" ein schönes Hobby. An ein paar musiktheoretischen Dingern bin ich dran, aber auch das nur langsam und rudimentär.
Im Zusammenspiel mit anderen Musikern/Bands muss ich meinen Platz finden und tu' das auch. Ich kann Slide-Gitarre spielen (das ist schonmal ein Skill, den nicht viele haben, das ist gut...), ich habe recht solides Akkordwissen und kann da auch ein paar für uns Rock-Gitarristen "komplexere" Sachen mitspielen (gibt ja Gitarrenspieler, die von einem Amaj7 oder E7#9 geschockt sind)... geht! Auch beim Lernen neuer Stücke brauche ich eine Aufnahme und am besten aufgeschriebene Akkorde dazu, um mir das zu erarbeiten - geht aber auch. Und JA, ich habe auch erlebt, dass Mitmusiker mit weitaus besseren Grundlagen im Notenspiel große Probleme mit dem eher freien Spiel nach Lead Sheets / Akkorden haben - liegt aber nicht am Notenlesen per se, sondern schlicht an der mangelnden Erfahrung/Übung im Spiel abseits klarer Notenvorgaben.
Für Gitarrenlehrer ist das sicherlich eine besondere Herausforderung. Wer Klavier lernen soll/will, der muss nach wie vor mit den Klassikern ran und Tonleitern üben, und wenn er das lange genug durchhält, gibt's irgendwann Jazz und Impro Kurse. Bei klassischer Gitarre ist das auch so. Bei Trompeten und sonstigen Blasinstrumenten auch. Aber bei der E-Gitarre eben nicht - das zeigen schlichtweg die Fakten. Würde ich als 10jährige Version heute erst mit Notenlernen "gequält" werden wollen, bevor ich endlich Enter Sandman lernen dürfte? Denke ich nicht. Will man als Lehrer lieber "richtig" unterrichten und Grundlagen schaffen oder ein Kind bei der Stange und Motiviert halten, so ein tolles Instrument zu erlernen? Sicherlich eine schwierige Entscheidung, da die Mitte zu finden.
Worauf ich hinauswill: Es ist für mich unbestritten, dass Notenkenntnisse - möglichst früh erlernt, genau so wie man Fremdsprachen am leichtesten in jungen Jahren lernt - das Leben als Musiker grundsätzlich bereichern, erweitern und vielleicht sogar leichter machen. Auf der E-Gitarre ist das aber dank der Beliebtheit und der resultierenden Verfügbarkeit unterschiedlichster Lehrmaterialien meiner Meinung nach keine "Pflicht", man kann nämlich auch ohne Notenkenntnisse zurechtkommen und erfolgreich werden.
Letztlich muss man sich selbst die Frage stellen - und beantworten - wo man denn hin möchte mit seinen Gitarrenkünsten. Wie groß ist die Ambition, was möchte man spielen, wie weit will man es bringen? Was braucht man dafür, womit ist man gut gerüstet? Diese Fragen muss man sich eben dummerweise selbst beantworten, es gibt keine allgemeine Wahrheit.