Jedoch: das weicht vom ursprünglichen Postulat der Tonartencharakteristik ab. Diese hat sich ja zur Zeit der wohltemperierten Stimmungen entwickelt, wo man den einzelnen Tonarten Affekte zuordnete.
Stimmt nicht so ganz, würde ich sagen. Ich kopiere mal einen etwas längeren Dialog aus Platons "Politeia" hier herein. Da geht es um die idealen Staat und darum, was dort für Wächter und "tüchtige Frauen" erlaubt sein sollte und was nicht. Ne ganze Menge Musik kam da gleich auf den Index.
"Nunmehr ist noch die Besprechung von Gesang und Lied offen?" fragte ich.
"Offenbar!"
"Es muß doch jedermann die Antwort finden können, die sich uns zwangsläufig aus der Übereinstimmung mit unseren früheren Feststellungen ergibt. Nicht?"
Da lachte Glaukon und sagte: "Ich gehöre offenbar nicht zu diesem 'jedermann', mein Sokrates. Ich kann mir im Augenblick nicht genau vorstellen, was wir antworten müßten; ich vermute es allerdings."
"Auf alle Fälle kannst du fürs erste dies sicher sagen: jedes Lied ist aus drei Bestandteilen zusammengesetzt: aus Wort, Tonart und Rhythmus."
"Das stimmt!"
"Was nun sein Wort anlangt, unterscheidet es sich wohl in keiner Weise vom nicht gesungenen Wort; es muß sich somit denselben Grundsätzen fügen, wie wir sie eben aufgestellt haben."
"Richtig!"
"Harmonie und Rhythmus müssen doch dem Wort entsprechen?"
"Wie auch nicht?"
"Nun brauchen wir - wie wir feststellten - in den Worten weder Klagen noch Jammern?"
"Nein!"
"Welches sind nun die klagenden Tonarten? Nenne sie mir, da du doch Musiker bist!"
"Die mixolydische, die syntonolydische und einige ähnliche."
"Diese müssen wir also ausscheiden; denn sie sind unbrauchbar selbst für Frauen, wenn sie tüchtig sein sollen, erst recht also für Männer."
"Sicherlich!"
"Trunkenheit, Verweichlichung und Schlaffheit schicken sich für die Wächter doch am wenigsten, nicht?"
"Natürlich!"
"Welches sind nun die weichlichen Tonarten, geeignet für Gelage?"
"Unter den ionischen und lydischen werden einige als schlaff bezeichnet."
"Wird man diese, mein Freund, für kriegerische Männer gebrauchen?"
"Keineswegs, es bleibt also nur mehr die dorische und die phrygische Tonart übrig."
"Ich kenne die Tonarten nicht", antwortete ich, "aber laß mir jene übrig, die in gebührender Art Stimme und Ausdruck eines tapferen Mannes nachahmt, der in kriegerischer Handlung und harter Bedrängnis, auch im Unglück - sei es bei einer Verwundung, angesichts des Todes oder sonst in einem Unheil -, der sich also in solcher Lage unerschüttert und standhaft des Schicksals erwehrt. Und eine andere Tonart für einen Mann, der in Frieden lebt und ohne Bedrängnis, an freiwilliger Arbeit, wenn er jemanden überredet oder bittet, mit Gebet einen Gott, mit Lehre und Zurechtweisung einen Menschen, oder sich umgekehrt der Bitte, Lehre oder Überredung eines anderen nicht verschließt und daher zu Erfolg kommt, ohne jedoch hochfahrend zu ein, sondern klug und maßvoll in alldem vorgeht und zufrieden ist mit dem Erreichten. Diese zwei Tonarten, die aufrüttelnde und die milde, die den Ausdruck der Männer in Unglück und Glück, der besonnenen wie der tapferen, am besten wiedergibt, diese laß übrig!"
"Damit wünschst du eben jene, die ich dir nannte."
"Also brauchen wir in Lied und Gesang nicht die Vielsaiteninstrumente noch die Allharmonie?"
"Ich glaube nicht!"
"Also werden wir für die Harfen und Zimbeln und all die Instrumente, die vielsaitig und vielharmonisch sind, keine Erzeuger bei uns unterhalten?"
"Durchaus nicht!'
"Dann nimmst du auch keine Flötenmacher und Flötenspieler in den Staat auf? Die Flöte ist ja das tonreichste Instrument, das den panharmonischen als Vorbild dient, nicht?
"Das ist klar!
"Lyra und Kithara bleiben dir also übrig zur Verwendung in der Stadt; auf dem Land draußen mögen die Hirten ihre Syrinx haben.
"Das ergibt somit unsere Untersuchung".
"Wir sind nieht die ersten, mein Freund, die Apollon und die Instrumente Apollons vor Marsyas und die seinen stellen."
"Sicherlich nieht, bei Zeus!
"Beim Hund, ohne es zu merken, haben wir da unseren Staat, den wir eben den üppigen genannt haben, wiederum gereinigt!
"Da taten wir klug daran!"
(Aus Platon "Politeia", kopiert aus
http://agiw.fak1.tu-berlin.de/Auditorium/RhMusAnt/SO_2/Platon.htm)
Soviel zu Platon und der Frage, wie alt die Tonartencharakteristik ist. Man könnte sagen, der Zeitraum in der es sie angeblich oder wirklich NICHT mehr gibt, ist ziemlich kurz. Aber da sieht man "wie wir's so herrlich weit gebracht". Heute wissen wir, es ist ein Mythos. Oder doch nicht?
Das ist kein "Mythos" und hat auch nichts mit Esoterik zu tun. Es gibt in der gleichstufigen Stimmung Tonartencharakteristiken. Allein dadurch bedingt, dass z.B. Terzen, Sexten, Dezimen (da hört man es besonders gut) unterschiedliche Schwebungszahlen haben. D.h. spielt man z.B. Terzen oder Dezimen auf dem Klavier aufwärts, wird man feststellen, dass diese Intervalle zum Diskant hin immer schneller schweben. Das wiederum bedeutet, dass die Schwebungsverhältnisse und Additionen selbiger selbst bei Akkorden die direkt nebeneinander liegen, unterschiedlich sind.
Es gibt zudem Akkorde in der gleichstufigen Stimmung, die "reiner" klingen als andere. Das ist dann der Fall, wenn z.B. die Schwebungszahlen von einer Terz und einer Sexte fast gleich sind. Und natürlich gibt es Akkorde, wo sich die Intervalle "reiben auf Deubel komm raus".
Jetzt mal abgesehen von instrumentspezifischen Merkmalen, die es einem erlauben oder erschweren ein Stück in einer anderen Tonart zu spielen, ist es tatsächlich so, dass wir ein - in eine andere Tonart gesetztes - Stück anders wahrnehmen. ( …)
Ja, es gibt wissenschaftliche Fakten. Selbst diese kann man unterschiedlich interpretieren (was auch oft genug geschieht
) Und daneben gibt es halt die menschliche Wahrnehmung. Mit all ihren Vor- und Nachteilen
"Erstaunlicherweise" gibt es doch Unterschiede zwischen den Tonarten - zumindest: sie (…) haben sogar auf dem Klavier unterschiedliche Klangfarben, weil schwarze und weiße Tasten verschieden klingen (ich habe keine Ahnung wieso - aber ich kann schwarze und weiße Tasten ziemlich zuverlässig übers Gehör unterscheiden;
Wobei: dieses Konzept mit der Tonartcharakteristik scheint mit von Anfang an mehr Bauchgefühl als reine Wissenschaft zu sein.
Mir scheint nur, dass Musik "von Anfang an" sowohl mit Bauchgefühl als auch mit Wissenschaft zu tun hatte und hat. Das ist das Problem - weniger für die Praktiker als für die Wissenschaftler. Wissenschaftler sind ja zugleich Vielwisser und Nicht-wissen-Woller, insofern sie alles, was sie nicht messen und/oder experimentell wiederholen können, ignorieren müssen. Ist keine böse Absicht, ist methodisch vorgegeben. Das Problem, das wir hier bei der "Tonartencharakteristik" haben, also bei der Wirkung der Tonarten auf die Seele, des Objektiven auf das Subjektive, ist, dass man das Messbare und das "Erleben" nicht wirklich zusammenkriegt. Für das eine hat man die Apparate, für das andere nur die Aussage des Menschen. Daran beißt sich ja auch die Hirnforschung die Zähne aus, z.b. bei den Libet-Experimenten.
Der exakte Wissenschaftler sagt: Die Tonabstände sind doch alle gleich, also KANN es objektiv keine Tonartencharakteristik mehr geben. Und wenn dann jemand sagt, "ich hör's aber doch, ich fühl's", dann ist das eben seine Privatsache.
Wobei Mod-Paul und hmueller ja auch Argumente dafür hatten, dass es immer noch - trotz gleichstufiger Stimmung - objektive Unterschiede gibt, das ist sozusagen hmuellers "Geheimnis der schwarzen Tasten"