Puh, da gibt's ein halbes Buch zu schreiben ... Ich versuch's mal komprimiert:
1. Es ist leider auch ein "Altersproblem", Automatismen wie das Aneignen von Licks schnell reinzubekommen. Je älter man wird, desto länger brauchen die Gehirnzellen, diese neuen Verbindungen zu schaffen und spontan von den Fingern abzurufen zu lassen. Ist leider so. Was im Kindes- oder Jugendalter noch "spielerisch" gelingt, braucht später immer mehr Zeit und Geduld. Diesen Fakt sollte man bedenken, bevor man ihn vorschnell und fälschlich mit mangelnder Kreativität gleichsetzt. Es dauert halt länger. Musst Du Dich mit abfinden.
2. Mach mal selbstkritisch eine Bestandsaufnahme Deines Repertoires. Welche Spiel- und Stilmittel kennst und kannst Du gut / weniger gut /gar nicht? Und was leitest Du daraus ab für Deine nächsten autodidaktischen Übungsziele? z.B.
Saubere Bendings als Bend oder Release Bend
Vibrato
Halb- und Ganztonslides auf und abwärts
Doublestops
Oktavspiel
Hammer on /pull off
Triolen
16tel
8 tel
Shuffle/Swing
Legato
Blue Notes
Verschmierte Bluesterz
usw.
3. Komm aus dem Trott raus. Verbiete Dir für das Üben zu Hause in nächster Zeit endloses Auf und Ab von Pentatonik. Nie wieder! Spiel nicht mehr als 5 oder 6 Töne hintereinander auf- oder abwärts. Spiel nicht mehr als 5 oder 6 Töne, ohne auf einem Zielton zu landen, der dann mal 1/2 oder ganzen Takt klingen darf. Denk und Spiel in kleinen Motiven, die Du variierst oder wiederholst und dabei einzelne Töne unterschiedlich betonst (ICH geh nach Haus, ich GEH nach Haus, ich geh nach HAUS). Und vor allem mach' niemals, was dieser Schwartz in einem seiner Videos fatalerweise empfielt: Pentatonik hoch und runter nebenbei vor dem Fernseher spielen. Das Blödeste, was man machen kann. Damit wird dem Gehirn am meisten antrainiert, was man hinterher nicht wieder loswird. (*)
4. Zeit freischaufeln. Übungseinheiten unter 2 Stunden bringen meist wenig. Jeden Tag mal höchstens 1/2 Stunde daddeln kann man sich im Grunde gleich schenken.
5. Höre Deinen Tönen intensiv zu! Welche Töne bei welchen Akkorden im Song erzeugen welche Stimmung? Welche erzeugen Spannung, welche bauen Spannung ab (beides ist wichtig, geht Hand in Hand). Wie fühlt(!) sich eigentlich die Septime an, wie die None, wie der Grundton, wie die kleine/Große Terz usw. Welches Gefühl, welche Stimmung macht das bei mir jeweils und wie kann ich das in meinem Spiel möglichst reproduzieren?
6. "Rückfallgefahr" besteht immer mit der Band. Beim Proben des Repertoires fällt man oft automatisch in alte Muster zurück. Über zu Hause möglichst mit anderen Playbacks als in der Band.
7. Übe nicht ständig mit Playbacks, die Dich in ihr Muster und zu altbekannten Handlungen (und evtl. zu Tempi, die man noch nicht beherrscht) zwingen. Zu einzelnen Akkorden oder Grundtönen kann man wunderbar auch allein Phrasen, Licks und Motive spielen, indem man einen Akkord anschlägt und ihn im Kopf als harmonischen Hintergrund mit Grundtonbezug weiterklingen lässt.
So weit in Kürze, was ich den nächsten 50 Stunden Unterricht mit Dir machen würde und mit allen Anderen, die sich nicht für kreativ halten
(*) Ständige Technikübungen mit Tonleiterspiel finde ich generell gefährlich, wenn sie mehr als 20% der Übungszeit ausmachen. Es wird dem Gehirn quasi das ABC vorwärts und rückwärts eintrainiert. Mit solchen statischen Buchstabenkombinationen bekommt man jedoch keine Worte zusammen und sinnvolle Sätze/Aussagen erst recht nicht. Analog ist das in der Musik.
PS - Nachgedanken:
# Autodidakten müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie sich im Rollenspiel "Lehrender = Lernender" gleichzeitig bzw. wechselweise zurecht finden müssen. Der lehrende Anteil muss dem lernenden Ich zwangsläufig immer ein Stück voraus sein. Wer das nicht hinbekommt, kommt nicht voran und für den funktioniert diese Lösung dann auch nicht.
# 99% der Internet Gitarrelern-Videos halt ich für Schrott, weil sie - wenn überhaupt - lediglich Elemente vermitteln = Licks und Phrasen rein spieltechnisch erklären und kaum wirkliche musikalische Bezüge herstellen, die Substanz auslösen. Du wirst mit großen Schläuchen nassgespritzt und hast hinterher mehr Durst als vorher. Diese Tendenz ist leider in allen Lebens-, Interessen und Bildungsschichten mal wieder auf dem Vormarsch. Schminke statt Geist, Phrase statt Aussage, Abfindung mitnehmen statt Suppe auslöffeln, Playback statt live. Glücklich und fleißig, wer da noch seine persönliche Nische findet.