I.
Ich stimme dir zunächst einmal zu, dass die E-Gitarre ein komplexes System ist bei der tausende von Details Einfluss auf den Klang haben.
Was dann am Ende nach der ganzen Signalkette von Bedeutung ist, darüber kann man ewig diskutieren. Ich behaupte aber, dass viele der angeblich entscheidenden Dinge mehr mit Psychoakustik zu tun haben.
Ich finde z.B. auch dünne Nitrolackierungen sexy. Ich mag die Mikrorisse darin und ich mag die Haptik. Man würde nun gerne annehmen, dass das "freie Atmen" des Holzes (=Naturstoff) zu einem besseren, natürlichen Klang führt. Demgegenüber muss doch dicker PU-Lack nach Plastik und damit künstlich und billig klingen.
Aber wenn man mal ernsthaft drüber nachdenkt, ob bei einem E-Gitarrenbody, der ja nur mittelbar Auswirkungen auf den verstärkten Klang hat, tatsächlich so ein bischen Lack was aus machen kann, muss man doch zweifeln. Bei der Decke einer akustischen Gitarre hingegen ist es vollkommen eindeutig.
Selbst vollkommen unlackierte E-Gitarren haben sich nach meiner Erfahrung nicht irgendwie hörbar abgehoben. Ich persönlich habe daher die feste Meinung, dass der Lack keine signifikante Auswirkung auf den Klang eine E-Gitarre haben kann.
II.
Natürlich ist das Material der Brücke von Bedeutung.
Nur: Zunächst einmal besteht überhaupt kein Konsens, welches Verhalten überhaupt zu einem besseren "Ton" führt.
Ist eine besonders gute Schwingungsübertragung auf das Holz bei einer E-Gitarre immer besser? Abgenommen wird ja die Saitenschwingung, das Mitschwingen des Holzes bedeutet ja erst einmal Energieverlust für die schwingende Seite. Das ist natürlich zur Tonformung grundsätzlich gewünscht, aber nicht im Sinne von "mehr Schwingung ist immer besser".
Es gibt mitunter Auswirkungen, die sind so lächerlich gering, dass jeder Dreh am Equalizer des Amps sie nivelliert.
Was ich sofort unterschreibe: Ein gute Gitarrenbauer /High End Hersteller dreht im Idealfall an all diesen Stellschrauben (Holzauswahl, Bridge, Bundmaterial, Pickups, Elektronik etc.) um ein Gesamtprodukt zu entwickeln, das seinen Idealvorstellungen bzw. denen des Kunden nahe kommt. Dafür zahlt man unter Anderem viel Geld.
Ein Massenhersteller - insbesondere im untersten Preissegment - entwickelt da eher eine grobe Konzeptidee und schmeißt im Zweifel die Komponenten drauf, die im Einkauf - unter Berücksichtigung eines gewissen Qualitätsanspruchs - besonders günstig zu haben sind. Was dabei rauskommt, ist wohl oft in weiten Teilen Zufall und unterliegt zudem auch noch stärkeren Streuungen.
Und trotzdem kann so ein Zufallsprodukt mal ziemlich gut passen während die vom Gitarrenbauer (für einen Anderen) sorgfältig zusammengebaute Gitarre nicht dem eigenen Soundideal entspricht.
III.
Ich hatte mal eine in Kleinstserie von einem deutschen Gitarrenbauer handgefertigte Gitarre aus irgendwelchen tropischen "Edelhölzern". Durchgehender Hals, Edelstahlbünde, Griffbrett aus Ebenholz, aktive Duncans, Floyd Rose, Schaller Mechaniken. Alles vom Feinsten.
Fühlte sich genial an und sah spitze aus.
Trotz Floyd Rose ein tolles Sustain, perfekte Saitenlage.
Aber der Sound war - für meine Ohren - klinisch und steril. Da war kein Leben drin. Das Ding fühlte sich für mich wie ein mittelmäßiges E-Piano an, wo andere Gitarren ein Konzertflügel waren. Es kamen die erwarteten Töne wenn man darauf spielte und die klangen auch nach E-Gitarre. Aber irgendwie alles leblos, als würde man eben Samples abspielen. Das klang nach Hifi, ausgewogenes Frequenzbild.
Ich hatte noch überlegt, ob ich die Pickups tausche oder das Floyd Rose runterwerfe, aber letztlich wurde mir bewusst, dass das Konzept der Gitarre einfach vollkommen gegen mein Klangideal lief. Anstatt das Kunstwerk des Gitarrenbauers zu schänden und am Ende wahrscheinlich trotzdem nur einen halbgaren Kompromiss in der Hand zu haben, habe ich die Gitarre lieber verkauft.
Diese Gitarre war objektiv natürlich "hochwertiger" und deutlich besser verarbeitet als die Harley Benton. Der Preisfaktor lag ungefähr bei 1 zu 15.
Aber: Müsste ich mich für eine der beiden Gitarren entscheiden, wäre es die Harley Benton. Weil diese qualitativ schlechtere Gitarre
für mich die besseren Sounds liefert. (Gegen viele andere Gitarren verliert die Harley Benton für mich, das ist nur ein Extrembeispiel)
So dass genau das inform der adäquaten bzw. mit kleineren Mängeln beschriebenen Qualität dabei herauskommt, was wir bei den HBs zurzeit sehen.
Wie bereits ausgeführt, halte ich das ganze Konzept E-Gitarre für ein Imperfektes System. Der Anspruch war am Anfang eher, besser verstärkbare Akustikgitarren herzustellen, was ja erkennbar nur leidlich gelungen ist.
Mit den Jahrzehnten hat sich daraus dann weiter ein Soundideal herausgearbeitet, dass sich z.B. aus der mangelhaften Leistung der Verstärker (=ungewollte Übersteuerung) ergeben hat.
Die Sounds, die wir im Ohr haben, sind nicht auf dem Papier eines Ingenieurs entstanden, sondern in der Praxis bei der Arbeit mit "mangelbehaftetem" Material.
Die möglichst genaue Reproduktion dieser Sounds ist heute die Profession einer ganzen Industrie. Es geht also nicht darum, ein technisch perfektes Produkt zu bauen, sondern eben bestimmte, mitunter technisch defizitäre Eigenschaften von früher möglichst originalgetreu zu rekonstruieren.
Die E-Gitarre ist eben zum Glück keine Produktionsmaschine, deren fest definierte Parameter immer weiter optimiert werden können.