Was mir in der heutigen Zeit auffällt ist, dass Deutungshoheit eine stark umkämpfte Domäne ist. Das gilt nicht nur für den Oberbegriff dieses Threads, viel mehr gilt es auch politisch, philosophisch, ethisch und das mit teils verheerenden Konsequenzen. Der weltweite Rechtsruck ist eine davon. Da werden Begrifflichkeiten teils einfach in ihr Gegenteil verkehrt und durch epische Wiederholung ensteht ein schleichender Prozess der Akzeptanz. Durch die Möglichkeiten der technischen Reproduktion und einer Generation, die längere konstante politische, gesellschaftliche und ethisch-moralische Zyklen nicht mehr kennt und generell unkritischer all den allgegenwärtigen Manipulationen ausgesetzt ist wird weniger reflektiert und hinterfragt. Ich spreche hier von der Fläche, vom Kollektiv, nicht vom Individuum.
Vintage ist auch kein irgendwie geschützter, eindeutiger Begriff. Es ist eher der Mix aus einem diffusen Klangideal, der Verklärung der Vergangenheit und vielleicht auch der unbewusste Wunsch nach weniger Komplexität hin zu mehr Simplizität, möglicherweise auch der nach mehr Wertbeständigkeit. Klar, dass Marketingstrategen psychologische Kniffe anwenden diesen Begriff maximal positiv zu besetzen um daraus Profit zu schlagen. Dass viele Profis im Besitz der wirklich guten Instrumente sind und diesen Mythos befeuern zementiert irgendwann diesen Status.
Auch für mich ist Vintage positiv besetzt. Die meisten der von mir präferierten Saiteninstrumente und deren Peripherie, allem voran Amps sind in den Fünfzigern und Sechzigern entwickelt und hergestellt worden was fast zwangsweise die Assoziation zulässt dass dieses Klangideal - obwohl auch heute präsent - dieser Zeit zuzurechnen ist und eben dafür wird ein Sammelbegriff verwendet......
Es gibt "unfreiwillige" Parameter einiger Gerätschaften, die nicht nur einen Charme, sondern auch eine atmosphärische Dichte und Spannung erzeugen können, dass diese so "magisch" klingen, dass man sich heute die Mühe macht sie digital oder diskret aufgebaut zu simulieren. Ich meine damit z.B. alte Bandechos, deren spezieller Sound z.B. Bandalterung, der Verunreinigung oder Magnetisierung von Tonköpfen oder ähnlichen Phänomenen geschuldet ist.
Ein Federhall von Accutronics darf man getrost auch als nicht mehr zeitgemäß attribuieren, trotzdem gibt es Gitarristen, die darauf schwören, analog dazu auch Studios, die nach wie vor Plate Hall im Einsatz haben.
Modulationseffekte die auf Eimerketten-Schaltkreisen beruhen finden nach wie vor Verwendung und Speaker werden bewusst z.B. in Richtung alter Jensens, Rolas getrimmt. Und auch heute sind Bandmaschinen im Einsatz, mitunter um eine komplett digital gemasterte Produktion zu "veredeln". Natürliche Gleichlaufschwankungen werden nicht als korrupte Klangirritation wahrgenommen.
Möglicherweise ist der Vintage Hype anteilig auch das Resultat nostalgisch musikalischer Fertigkeit aus der Summe technischer Limits eine Kunstform zu erschaffen, die genau diese Bedingungen benötigte und eben daraus ihren Zauber zieht. Weißes Rauschen ist auch mehr als ein Störgeräusch eines verstimmten Radios oder einer Synthesizerfunktion. Es ist auch die Summe von Potenzialen die es heraus zu isolieren, zu kanalisieren gilt und es kann auch ein Schleier auf einer alten Aufnahme sein, die eben genau diesem ihren unnachahmlichen Reiz verdankt.
Dass Vintage auch stumpfe tote Saiten, verzogene Hälse, schlechte Mechaniken, inakzeptable Spaltmaße, mikrofonische Röhren und PU's, starke Toleranzen in elektrischen Werten und dergleichen mehr bedeutet steht für denjenigen der all dieses Zeug praktisch angewendet hat außer Frage. In einer bipolaren Welt haben alle Aspekte zwei Seiten.