Es steht eben das kommerzielle Interesse im krassen Gegensatz zum eigentlichen, "gesellschaftlichen Auftrag". Aber das Problem gibt's auch in Krankenhäusern, in der Politik, der Forschung, ... im Westen nichts Neues.
Das ist allerdings eine relativ neue Entwicklung, die mit dem Aufkommen der modernen Computertechnik, Internet usw. erst so richtig begonnen hat. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es so, dass es sehr aufwändig war, neue Produkte auf dem Markt zu platzieren. Dadurch war die Zahl der auf dem Markt befindlichen Produkte in jeder Branche von Natur aus sehr überschaubar. Da es also noch nicht viel gab, war es verhältnismäßig einfach, ein neues Produkt bekannt zu machen. Aufgrund des noch geringen Angebotes waren nicht nur die Konsumenten, sondern auch die Medien (Zeitung, Radio, TV...) daran interessiert, Neues zu entdecken.
Seit den 90er Jahren, besonders verstärkt aber seit der Jahrtausendwende, hat sich die Welt durch die massenhafte Verbreitung des PC's und des Internets schlagartig gewandelt: Das Anbieten und Verkaufen von Produkten wurde immer einfacher, und auch die Konsumenten haben heute die Möglichkeit, fast jeden noch so exotischen Artikel zu bekommen. Ob man einen Modell-LKW einer norwegischen Spedition haben möchte, eine CD mit finnischer a-cappella-Musik oder aber eine Vuvuzela aus original südafrikanischer Produktion - praktisch alles nur Erdenkliche ist über Internet bestellbar. Dadurch herrscht ein irrsinniges Angebot, kein Mensch blickt da mehr durch. Der klassische Versuch der Hersteller, mittels Werbung auf sich aufmerksam zu machen, scheitert zusehends: Werbemails werden ungelesen gelöscht, Werbeblocker-Software installiert, "Bitte keine Reklame einwerfen" an die Briefkästen geschrieben, Werbeflyer ungesehen in den Müll geschmissen, und bei der Fernsehwerbung umgeschaltet - einfach weil eine derartige Masse an Werbung einfach nur noch nervt. Das Angenot an neuen Produkten wird immer größer, aber nur noch ein geringer Teil davon wird am Ende - möglicherweise durch Zufall - erfolgreich. Welches Produkt zum Erfolgsschlager wird und welches nicht, weiß man im Vorfeld nicht. Die Folge ist eine Marktsituation, in der wir eine sehr kleine Zahl "Hits" und eine riesige Zahl "Flops" haben. Nur: Die Forschungs- und Entwicklungskosten (Fixkosten) für diese Flops müssen ja letztlich irgendwie vom Markt finanziert werden (wie gesagt: es weiß ja im Vorfeld keiner, welches Produkt erfolgreich wird und welches nicht).
Die klassischen Medien (Fernsehen, Radio, Presse...) verlieren ebenfalls den Überblick und können auch kaum mehr einschätzen, welche neue Idee nun erfolgversprechend sein könnte und welche nicht. Infolge dessen versuchen sie, auf "Nummer Sicher" zu gehen und über neue Themen erst dann berichten, wenn sie sich bereits durchgesetzt haben. Neues, (noch) Unbekanntes hat dann da keine Chance mehr.
Ich bin mir sicher, dass unser Marktwirtschaftssystem, so wie wir es kennen, in wenigen Jahren zusammenbrechen wird. Durch das Internet wird das Überangebot immer größer; es werden immer mehr Produkte entwickelt (was viel Geld kostet), von denen nur noch ein verschwindend geringer Teil überhaupt Gewinn einfährt. In vielen Branchen geht es nur noch darum, in einem völlig übersättigten Markt der Konkurrenz Marktanteile abzujagen und sie ggf. komplett in den Ruin zu treiben. Im Spielerischen wird das beim Monopoly sehr deutlich; im realen Leben ist dieses Vorgehen z. B. in der Lebensmittel- und Gastronomie-Branche gut zu beobachten. Im Grunde genommen müsste unser komplettes Wirtschaftssystem umgekrempelt werden, denn der Kapitalismus kann nicht mehr funktionieren, wenn in allen möglichen Branchen das Angebot größer ist als die Nachfrage.
Aber ehrlich gesagt verstehe ich deine Vehemenz hier nicht ganz: Sicher fällt auch Einiges unter den Tisch, aber war das jemals anders? Wenn ich durchs Radio zappe, dann bekomm ich eher den Eindruck, dass der Fächer ziemlich weit ist: Klassik, Kulturradio, Hörbücher, Reportagen, Pop, Rock, Rap, Trance, Schranz, genauso wie Schlager und Ethnomukke. Außerdem gibt es ja bei jedem Radio noch spezielle Sendungen, die dann Neuerscheinungen oder außergewöhnliche Künstler vorstellen. Als so flach wie du sie beschreibst, empfinde ich die Radiolandschaft überaupt nicht.
Also wenn ich mal einen Sender, der sich auf ein bestimmtes Format bzw. eine bestimmte Zielgruppe festgelegt hat, über längere Zeit höre, da packt mich schon das Grauen. Nehmen wir als Beispiel einen normalen Pop-Sender. Wenn da jetzt ein bekannter Pop-Act, z. B. Rosenstolz, ein neues Album rausgebracht hat, dann wird von dieser LP praktisch immer nur ein Song gespielt - nämlich der, den es parallel dazu als Single-Auskopplung gibt. Diese Single-Auskopplung wird dann auch noch zu allem Überfluss alle paar Stunden wiederholt. Die Folge: Die Single kann man nach ein paar Tagen nicht mehr ausstehen. Die 13 anderen Songs auf dem Album lerne ich nicht kennen, weil sie nicht gespielt werden. Ich müsste mich also nun in den Plattenladen begeben und hoffen, dass der Laden die CD vorrätig hat, und müsste mich dort endlos lange hinstellen, um mir die Titel dort anzuhören. Hat der Laden die CD nicht da: Pech gehabt ... Na ja... man kann sie ja noch bei Amazon & Co. bestellen ... aber wo kann man sich sie vorab mal anhören??? Da landet man dann wieder bei den illegalen Anbietern..... Besser fände ich, wenn die Radiosender hergehen würden und z. B. ein ganzes Album in die Rotation aufnehmen, und die einzelnen Songs gleichmäßig im Programm verteilen. Wenn man dann mal nach einigen Tagen oder Wochen Radiohören mal sechs oder sieben Titel aus dem Album gehört hat, kann man sich schon eher einen Eindruck verschaffen. Dann kann man auch mal sagen: "Die Hälfte der Songs sind schon mal super; da kann man sich dann auch mal bei Amazon das Album bestellen."
Bei spezieller orientierten Radiosendern sieht das Ganze genauso aus: Nehmen wir mal den Dance-Sender Sunshine Live. Wenn man da das übliche Programm hört, dann laufen da die gängigen Singles im Stundentakt. Jeder, der sich im Dance-Bereich auskennt, weiß eigentlich, dass auch Dance-Acts nicht nur Singles, sondern auch ganze Alben veröffentlichen - so z. B. David Guetta, Groove Coverage oder Cascada. Aber anstelle da mal aus dem Vollen zu schöpfen und auch mal einige Album-Tracks zu spielen, die nicht als Single ausgekoppelt wurden, laufen die Singles jeden Tag mehrfach. Und das geht mir schnell auf den Geist.
Und mal ehrlich: Wie oft beschweren sich denn bitte Szeneleute, wenn plötzlich alle Welt ihre Musik hört? Dann ist es auf einmal auch nicht mehr richtig.
Ich denke mal, es geht um die Penetranz, mit der viele einstige Szenetitel kommerziell regelrecht ausgeschlachtet wurden (und werden). Ich glaube kaum, dass Szene-Leute etwas dagegen haben, wenn ihre Lieblingsmusik IN MAßEN im Radio gespielt wird.
Vor einigen Jahren etwa war Bachata-Musik in Deutschland in Deutschland völlig unbekannt, sondern eine traditionelle Musikrichtung aus der Dom-Rep. Dann verbreitete sich plötzlich im Sommer 2004 im Internet der Song "Obsesion" von Aventura, und stieg kurz darauf in Deutschland und anderen europäischen Ländern auf Platz 1 der Charts ein. Infolge dessen spielten die Radiosender und DJ's diese Platte dermaßen exzessiv, dass sie nach kürzester Zeit massiv anfing zu nerven - und der ganze Bachata-Sound gleich mit, so dass man wenige Wochen später von der ganzen Geschichte nichts mehr hören wollte. Solche Titel sollte man m. E. dosierter einsetzen, und vielleicht alle paar Tage einmal spielen.
Dasselbe Problem hatten wir z. B. auch bei "Call On Me" von Eric Prydz: Lange Zeit eine Szene-Platte, wurde sie dann plötzlich jede Stunde auf MTV und Viva gespielt. Dadurch nervte die Platte dann wirklich dermaßen, dass sie nur noch aufregte.
Bei dem Webradio, wo ich arbeite, setzen wir Titel dosierter ein: Wir bringen Titel schon dann, wenn sie wirklich neu sind, spielen sie dann aber nicht jeden Tag x-mal runter, sondern eben vielleicht 2-mal die Woche.
Ich habe aber auch schon mehrfach im Internet gelesen, dass der "normale" Durchschnitts-Radiohörer nur eine halbe Stunde am Tag Radio hört, und in dieser Zeit halt gewisse Dinge (Nachrichten, Wetter, Verkehr, bestimmte Chart-Hits) erwartet. Ich gehöre hingegen zu denjenigen, die auch Spaß daran haben, auch mal über einen längeren Zeitraum hinweg jeden Tag mal 6-7 Stunden Radio zu hören. Und da nervt es dann schon, wenn man dann jeden Tag zwei oder drei Mal dieselben Platten hört.
DJ Nameless