@CreCoProject, ich habe immer mehr die Befürchtung, dass du dich gerade sehr "links-hemisphärisch" verrennst.
Deine Fragen sind gewiss sowohl berechtigt als auch grundsätzlich spannend. Ich kenne das von mir selber, ich kann mich gut an eine - nun schon relativ weit zurück liegende Phase erinnern, wo ich mir auch ganz ähnliche Gedanken machte und alles Mögliche tief ergründen wollte, verstehen, definieren, be-"greifen", also zu fassen zu bekommen.
Aber manches entglitt mir je mehr ich dachte "jetzt habe ich es". Ganz besonders was die Musik betrifft. Ich interessiere mich auch für Naturwissenschaften, Technik und Elektronik, auch für Neurologie und Gehirnwissenschaften und verfolge stets manche neue Veröffentlichungen und versuche, mich immer weiter zu bilden und mein Wissen zu erweitern. In technischen Zusammenhängen, wo es sehr gut möglich ist, äußerst präzise Messungen durchzuführen, empfand ich es immer leichter, die Erkenntnisse auf festen Boden zu stellen. Überhaupt bin ich ein Fan wissenschaftlicher Methoden, des Verifizierens und Falsifizierens von Thesen und Theorien. Dazu ist es nötig, möglichst viele Fakten zu beschaffen, zu forschen und zu experimentieren.
Auch in der Musik finde ich es schön, mein Wissen zu bereichern, denn das Wissen, z.B. über Obertöne, Klänge, Harmonik, über Musikinstrumente, über die Musikgeschichte, über die Musik anderer Ethnien und Völker kann mein Verständnis vertiefen und mich insgesamt bereichern.
Aber ich musste aufpassen, beim Nachdenken über manche Fragen nicht irgendwelchem Geschwurbele aufzusitzen und nicht selber in mehr oder weniger esoterisches Geschwurbele abzugleiten. Über den Ursprung von Musik z.B. kann ich nichts erfahren, niemand wird das jemals in Erfahrung bringen können. Also muss ich auch nicht weiter darüber nachdenken, ich würde nur meine Zeit verschwenden.
Aber ich kann und soll mich daran
erfreuen, dass es Musik gibt, dass sie in die Welt gekommen ist und existiert, und dass ich daran teilhaben kann, sowohl aktiv als auch passiv.
Das Wissen über Musik, soweit es gefestigtes Wissen ist und kein Geschwurbele, kann mein Erleben der Musik gewiss vertiefen,
aber es kann das Erleben nicht ersetzen.
Musik, Klang ist etwas lebendiges und will
erlebt werden.
Meiner Erfahrung nach verbaut eine allzu intensive Fixierung auf die "linkshemisphärische" Seite (im Sinne von dem Verstand zugeordnet) einem das Erleben mehr als es dieses vertieft.
Hier noch einige Gedankensplitter zu einigen angesprochenen Themen:
Musik und Sprache
Einen schönen Gedanken dazu fand ich, dass Musik die Sprache erhöht, sie dem Alltag entreißt. Die Mönche in den Klöstern hätten alle Texte die den "Gregorianischen Gesängen" zugrunde liegen auch nur sprechen können, sie wurden und werden ja auch gesprochen als liturgische Texte.
Im Gesang konnten sie sich aber Gott näher fühlen, da der Gesang die Texte sozusagen veredelte, und das Erleben des eigenen Singens setzt bekanntlich Endorphine frei, ruft Glücksgefühle hervor und steigert sie. Vom Sprechen zum Singen zu kommen war (und ist) also für die Mönche mehr als nur naheliegend.
Dass Singen und überhaupt Musizieren zu Trance-Zuständen führen kann ist ja gerade in anderen Kulturen oft zu erleben.
Ein Wesensmerkmal von Musik ist überhaupt, dass sie uns dem Alltag entrückt - im weitesten Sinne. Auch wenn für mich als Musiker Musik eigentlich Alltag ist, so ist sie doch immer etwas Besonderes geblieben und dieses Besondere empfinde ich immer noch besonders stark bei Auftritten.
Cage und Musik als Zeitkunst
Cage wurde mehrfach erwähnt und z.B. die Frage gestellt, ob sein "4:33" Musik sei oder nicht. Wenn es ein Wesensmerkmal ist, dass Musik Emotionen auslöst, dann ist 4:33 auf jeden Fall Musik, denn die Uraufführung war ein Skandal, es gab Tumultartige Szenen im Publikum. Also Emotion pur.
Cages Werk berührt auf eine faszinierende Weise philosophische Dimensionen. Dass Musik eine Zeitkunst ist, ist offensichtlich, denn die Dauer eines jeglichen musikalischen Ereignisses, seien es Töne, Klänge allgemein oder Pausen muss größer als t=0 sein um überhaupt existent und damit wahrnehmbar zu werden. Dabei erwarten wir als Hörer wie selbstverständlich auch eine gewisse Länge und Ausdehnung, ein einzelner kurzer Ton (oder gerne auch Furz
) wird kaum jemand als Musik empfinden können bzw. wollen.
Insofern musste Cages 4:33 auch eine gewisse Zeit dauern, denn wären es nur 0:3 oder 0:33 gewesen, hätte niemand die Stille als ein (in der Wahrnehmung
fehlendes) Stück interpretieren können, diese kurzen Dauern wären nicht von den üblichen Konzentrationspausen zu unterscheiden gewesen wie sie Interpreten zwischen einzelnen Stücken oder Sätzen oft machen.
Dabei liebte Cage die Extreme, für sein Stück "as slow as possible" (ORGAN²/ASLSP), das derzeit in einer alten Kirche in Halberstadt aufgeführt wird [
https://www.aslsp.org/das-projekt.html] braucht man mehr als nur gutes Sitzfleisch, oder sogar ein langes Leben. Bei einer Aufführungsdauer von 639 Jahren werden nicht nur wir, sondern auch etliche nachfolgende Generationen den Schluss nicht erleben (wenn es die Zivilisation bis dahin überhaupt noch gibt).
Wahrhaft philosphische, vielleicht sogar religiöse Dimensionen
Musik und Botschaft - Kommunikation
Dass Musik, die Text beinhaltet oder vertont, eine Botschaft hat oder dass man dieser Musik eine Botschaft zuordnet, kann als Selbstverständlichkeit durchgehen. Ist es doch in der Regel der Text, der irgendeine Art von mehr oder weniger konkretem Inhalt oder Botschaft ausdrückt (wenn es nicht gerade eine DaDa-Vertonung ist).
Bei reiner Instrumentalmusik wird es da schon schwieriger.
Nehme wir mal einige der Beethoven-Sinfonien als Beispiel. Sehr demonstrativ und an vielen Stellen regelrecht lautmalerisch (bis hin zu den Vogelstimmen am Ende des 2. Satzes) die 6. Sinfonie ("Pastorale"). Hier hat Beethoven selber den Sätzen erläuternde Überschriften gegeben (1. Satz "erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande", 2. Satz "Szene am Bach", usw.). Die 3. Sinfonie wollte Beethoven Napoleon widmen, hat das aber zurückgezogen als er von den militärischen Übergriffen erfuhr. So blieb es bei dem eher allgemeinen Beinamen "Eroica" (heroische Sinfonie). Der von den Solisten und dem Chor gesungene Text am Ende der 9. Sinfonie, Schillers "Ode an die Freude" ist zusammen mit Beethovens Thema dazu Allgemeingut geworden.
Aber was ist die Botschaft der 1. Sinfonie, der 2. usw.? Was ist mit den Sätzen der 9. vor dem Schlusssatz und bei diesem mit dessen ersten Abschnitten vor dem Einsatz des Gesangs?
Welche Botschaften mag es dort geben?
Fragen über Fragen?
Nun ist es so, dass gemäß der Aussage von Paul Watzlawick "Man kann nicht nicht kommunizieren" immer etwas passiert in einem, immer irgendwelche Synapsen feuern, wenn wir Sinneseindrücken ausgesetzt sind, also im Zusammenhang dieses Threads Musik hören. Das kann die die Selbstdefinition der "Minimal Music" als absichtslos nicht verhindern. Auch wenn diese Musik erklingt, feuern jede Menge Synapsen im Gehirn, geschieht etwas in uns, werden Gefühle und Gedanken ausgelöst, kann Entspannung folgen u.a.m.
Und braucht es mindestens zwei für die Kommunikation? Was ist mit jenen, die zuhause im stillen Kämmerlein Bach-Inventionen, Beethoven-Sonaten oder so spielen?
Je nun könnte man sagen, dass sie versuchen posthum mit Bach, Beethoven usw. zu kommunizieren.
Aber wenn im stillen Kämmerlein jemand vor sich hin improvisiert? Selbstgespräche am Klavier???
Fragen über Fragen.
Botschaften - mag es geben, aber welche nur???
Statistik
... ist ein weites Feld und wird allzu oft sehr schludrig und unwissend angewendet oder interpretiert. Am Beispiel der Anzahl der Störche in der Region und den Geburtenraten ebendort wurde schon deutlich, wie schnell manche Korrelation und Koinzidenz, die einfach zufällig und ohne Zusammenhang ist, verwechseln.
Zum Vertiefen des Themas Statistik und ihrer möglichen Fehlerquellen empfehle ich die Lektüre der "Unstatistik des Monats" [
https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik.
Sehr erhellend.
Mikrointervalle
Um ein wenig auf den Ausgang des Threads zurück zu kommen ...
Da ich eine Zeitlang, schon als Student, viel Avantgarde-Musik gespielt habe, auch etliche Uraufführungen, hatte ich schon früh Kontakt zu Mikrointervallen, denn diese werden gerne in diesem Genre notiert, z.B. Vierteltöne, aber auch Eintrübungen in der Intonation usw.
Bei eigenen Improvisationen an und mit Pfeifenorgeln nutze ich gelegentlich den Effekt von nur halb gezogenen Registerzügen (geht nur bei Orgeln mit mechanischer Register-Traktur). Das klingt herrlich schräg! Und gibt sehr interessante Klänge, die schön die überkommene Dur-Moll-Harmonik kontrastieren und auflösen!
Mich schrecken auch die Skalen und Mikrointervalle von z.B. arabischer Musik nicht ab. Im Gegenteil hatte und habe ich immer das Gefühl der Bereicherung, wenn ich einem für mich neuem Stil, neuem Genre oder Musik anderer Ethnien begegnete und begegne (nur allzu penetrant Lautes schreckt mich ab, das kann ich physisch nicht vertragen).
Die Welt ist reich, die Musikwelt ist reich. Mit dem Verstand kann ich mich vielem annähern und mein Verständnis vertiefen. Aber ich musste einsehen, dass mein Verstand nicht ausreicht oder mir nicht weiterhilft, mich ganz einzulassen auf die Musik, sie ganz in der Tiefe zu erleben.
Den Verstand wenn man so sagen will auszuschalten ist sicher nicht einfach, aber meiner Erfahrung nach kann dies in der Musik und der Kunst helfen, Türen - vor allem die Ohren - weiter zu öffnen.
Musik ist für mich Erleben, Empfinden von Tönen und Klängen. Berührt zu werden ist für mich - heute - wichtiger als das Verstehen-wollen. Zu viel "Wollen" verkrampft und macht eher unempfindlich für dieses Berührt-werden, verschließt eher und lässt einen das Wesentliche verpassen.
Was schade wäre.