Musiktheorie sagt dir aber nicht, was du tun sollst, sondern wir benutzen sie als Sprache, um einfacher zu kommunizieren, zu erklären und zu verstehen.
Ich halten den Vergleich von Musik und Sprache für überaus zutreffend.
Da man die Muttersprache von Anfang an durch Hören und Nachahmen erwirbt, entwickelt man automatisch das berühmte "Sprachgefühl", das im Grunde ohne Grammatik auskommt.
Die Grammatik ist vor allem sehr hilfreich, wenn man eine Sprache als Fremdsprache vermitteln muss und jahrelanges Hören und Nachahmen rund um die Uhr nicht möglich sind.
Auf jeden Fall gilt wohl: Zuerst kam die Sprache, dann wurde die Grammatik darübergestülpt, um Begrifflichkeiten zu haben und Regeln extrahieren zu können. Zwangsläufig gespickt mit Ausnahmen. Da die Ästhetik im Vordergrund steht und nicht ein Regelwerk, sind in allen Sprachen ausgerechnet die meistgenutzten Verben unregelmäßig.
In der Musik ist das zweifellos ähnlich. Da hat sich die Theorie ja auch immer dem herrschenden Zeitgeist angepasst, um jeweils ein geeignetes Werkzeug in der Hand zu haben.
Zur Betonung oder Nicht-Betonung
"Ganz früher" gab es ja weder Takte noch Taktstriche. Da richtete sich der rhythmische Fluss eher nach dem natürlichen Sprechrhythmus (das ist z. B. heute noch in den gregorianischen Chorälen zu erkennen, wie sie in modernisierter "Eierkohlennotation" in Gotteslob (oder ev. Gesangbüchern? kann ich jetzt nicht beschwören) zu finden sind.
Später hat sich immer mehr eine Metrik (wie bei Gedichten) herausgebildet, und bald darauf tauchten auch die ersten Taktstriche auf.
Was ich damit sagen will:
Wie bei einem klassischen Gedicht gibt es in der Musik ein Metrum, einen Grundpuls bzw. ein "Betonungsschema" wie es unsere Taktarten innehaben.
Und da wird grundsätzlich (es gibt immer Ausnahmen) die 1 betont.
Sonst bräuchte man das Konzept "Takt" nicht.
Und auch wie bei Gedichten gilt:
Wenn man sich überdeutlich und maschinenartig an die vorgegebenen Betonungsmuster hält, klingt das Gedicht unnatürlich und gefühl- und verständnislos "heruntergeleiert".
Dennoch hat der Rhythmus eine Bedeutung.
Das aus Uhreberrechtsgründen völlig unbekannte Wiegenlied als Eigenkomposition des Autors kenne ich nicht und es hat auch keinen Text, aber nehmen wir nur den Anfang von
Schla-fe, mein
Prinz-chen, ...
Auch natürlich gesprochen, als normaler Satz, ganz ohne Musik, wird man die markierten Silben mehr oder weniger stärker betonen als den Rest, oder? Allerdings - genau wie im vorliegenden Fall, das "Prinz-" als Nebenbetonung, also deutlich weniger stark als das "Schla-".
Deshalb hat Mozart das Stück ja auch im 6/8-Takt geschrieben, siehe hierzu Oghams überaus zutreffende Anmerkung.
Falls man andere Stellen als den "Standard" betonen soll, wird das in der Regel im Notentext angezeigt.
Die per Bogen zusammengefassten Phrasen sind wie Sätze. Und innerhalb von Sätzen gibt es natürliche Betonungen, die in der Regel bei Gedichten und Liedern einem "Versfuß" folgen.
Wenn es keine rhythmische Regelmäßigkeit gäbe und damit einhergehende Betonungen, wäre das Konzept von Takten völlig sinnlos.
Ockham's Solution
Wiegenlieder verlangen nach einem "wiegenden Rhythmus" - bei 3/4 und bpm=140 kriegt das Kind ja ein Schütteltrauma.
Das ist ein interessanter Ansatz und er löst auch den (scheinbaren) Widerspruch, der
@Kaiari verunsichert hat, auf. Es ist wohl tatsächlich leider so, dass in Anfängerliteratur oft Achtelnoten und alles, was "schneller" ist, von den Autoren gemieden wie der Teufel das Weihwasser meidet.
Bei vereinfachten Originalwerken ist das überdeutlich erkennbar, bei Eingeschnöpfungen des Autors, wie im vorliegenden Fall, ist die einfache Version ja bereits das Original.
@Kaiari
Wenn Du Dir in den Original-Noten einen typischen Hum-ta-ta-Walzerrhythmus eines imaginären Schlagzeugs vorstellst, wird klar, was
@OckhamsRazor mit "Schütteltrauma" gemeint hat - da wird die fließende Melodielinie mit mit völlig unpassendem hektischen Geklapper unterlegt und genau in dem per 3/4-Takt notierten Grundpuls die Wiege im Vierteln hin- und her gerüttelt wird, wäre mit als Kind das Kotz... gekommen.
Ich nehme mal den Notentext wörtlich, betrachte, wie im 3/4-Takt üblich, eine Viertel als "Beat" bzw. Puls und bewege die imaginäre Kinderwiege wie abgebildet (ich habe eigens hierfür ein kleine Wiegensymbol gebastelt):
Also bei jedem "Schlag" ist die Wiege jeweils wieder auf der anderen Seite. Das ist eindeutig viel zu hektisch und schnell.
Alternative wäre, immer nur "auf die 1" zu wiegen, so, wie man auf einen Karnevals-Walzer schunkelt. Das ist jetzt nicht als Witz gemeint, denn Schunkeln ist ja deutlich eine Anlehnung an das Schaukeln und Wiegen aus Kindertagen und passt wunderbar zur deutschen "Gemütlichkeit", weil es positive Gefühle auslöst (auch, wenn man das spießig finden kann).
Wenn man das alles aber musikalisch viel sinnvoller im fließenden, wiegenden 6/8-Takt sieht, wären die Achtel in Dreierguppen aufgeteilt (sieht man auch an den Balken) und man würde - wie üblich - die 1 betonen, aber als Puls in punktierten Vierteln (also jenen Dreiergruppen) zählen, so das das h' viel weniger als die 1 betont würde, aber dennoch ein bisschen mehr als die Achtel "dazwischen".
Um das effektive Spieltempo beizubehalten, habe ich die Tempoangabe auf punktierte Viertel umgerechnet (und auf eine übliche Metronomangabe gerundet):
Und und schon sind die Wiegen-Bewegungen viel beruhigender (das entspricht eine Schaukelfrequenz von ca. 0,4 Hz)
Noch eine Alternative?
Allerdings gefällt mir das Zählen/Denken in punktierten Achteln und die hiermit einhergehende (leichte) Betonung des h' nicht ganz bzw. ich würde es intuitiv anders spielen, nämlich doch wieder im 3/4-Takt, aber mit der Melodie in Achteln. Die Schwerpunkte (Betonungen) habe ich in die Noten nicht extra eingezeichnet, aber sie sind an den Kinderwiegen gut zu erkennen:
Die Hauptbetonung liegt wie üblich auf der 1, aber die beiden darauffolgenden Nebenbetonungen (im Gegensatz zum 6/8-Takt schlägt der Puls wieder in Vierteln).
@OckhamsRazor: Was meint der klassisch gebildete Fachmann dazu?
Freilich sind beide Interpretationen möglich und die Absicht der Komponistin bleibt (aufgrund der Über-Vereinfachung) im Dunkeln.
Ideale Einschlaf-Schaukelfrequenz?
Jetzt hat mich doch einmal interessiert, welche Wiegefrequenz ideal zum Einschlafen ist. Zumindest grob.
Bei [Ko et al. 2016]
*) bin ich fündig geworde:
Die Messungen wurden zwar nicht mit einer klassischen Kinderwiege, sondern mit einer vertikal schwingenden, an Federn aufgehängten Hängematte ("baby hammock") durchgeführt, aber das wird schon hinkommen und unseren bescheidenen Ansprüchen genügen...
Dort wird eine optimale Einschlaf-Frequenz von 0,55 Hz genannt.
Wenn man das auf eine Metronom-Angabe umrechnet (immer pro Puls von Anschlag zu Anschlag, also zwei Pulse in einer Wiegeperiode), dann kommt man auf 66 BPM.
Das kommt ziemlich nah an meine "70 Viertelnoten pro Minute" heran und ich habe dem Kind gegenüber kein schlechtes Gewissen.
Fazit
Da hat die Autorin versucht, das Notenbild zu vereinfachen und hat dabei leider eine (berechtigte!) Verwirrung wegen der unpassenden bzw. stark übetriebenen Betonung jeweils der 1 provoziert.
Vielleicht (nein, ganz sicher!) wäre eine korrekte Notation, wie von
@OckhamsRazor vorgeschlagen, da tatsächlich insgesamt einfacher verständlich (weil in sich geschlossen).
Achtelnoten kann man auch angemessen langsam spielen, dann sind sie auch anfängergeeignet.
Oder wenigstens hätte sie einen 6/4-Take wählen können, aber der wäre ja noch "exotischer" als ein 6/8.
Wie sagte Albert Einstein so passend: "
Alles sollte so einfach wie möglich sein - aber nicht einfacher."
Viele Grüße
Torsten
*) Vibration Analysis of Electronic Baby Hammock, Ko et al., 2016