Übermorgen ist schon der vierte Adventsonntag. Wahnsinn, wie schnell heuer Weihnachten herbeistürzt.
Ein Telegramm mitten aus dem Dauerbeschuss durch Prüfungen, Konzerte etc...
Der Test aus Harmonielehre ist geschlagen. Eineinhalb Stunden habe ich mich gefühlt wie wohl weiland Napoleon bei Waterloo.
18 Takte einer Melodie sollten mit vierstimmigem Chorsatz versehen werden. Dabei waren bestimmte Verbindungen passend zu verwenden, wie Dominantnon- und -tredezimakkorde sowie deren Umkehrungen, harmoniefremde Tonklauseln etc. etc. Die Garde fällt, aber sie ergibt sich nicht. Also habe ich gekämpft bis zur letzten Minute, bin aber trotzdem nicht fertig geworden.
Vor ein paar Tagen war Rückgabe. Da war verdammt viel Rot auf meinem Test. Gerade noch genügend - mit Glück und wohl auch Gnade. Immerhin war ich kein Einzelfall, denn knapp 90% sind durchgefallen. Die entscheidende Abschlussprüfung ist für Ende Jänner anberaumt.
Ich habe mir jetzt per Eilbestellung eine Standardschwarte zur Harmonielehre kommen lassen, denn Skriptum und Mitschrift geben einfach zu wenig her.
Anders formuliert: Da wartet hässlich viel Arbeit...
Gestern musste ich dann im großen Konzertsaal des Konservatoriums antreten. Das Konzert war plakatiert - im und rund ums Haus. Als ich das sah, spritzten gleich die ersten Schweißtropfen von meiner Stirn. Mit der mühsam eingeredeten Ruhe war es vorbei.
Vor einer Woche hatte mir meine Professorin so nebenbei mitgeteilt, dass ich das Notenpult im Konzert unbedingt mindestens um ein Drittel niedriger stellen müsse wie gewohnt. Verstecken gilt nicht. Das war fatal. Als Brillenschlange mit einer Gleitsicht-Arbeitsbrille, die im unteren Drittel nur den unmittelbaren Nahbereich abdeckt, sehe ich damit nichts am Pult, sobald ich nach unten durch diese Brille blicken muss. Glücklicherweise hat der Optiker nach doppelt eingesprungenem Kniefall in nur vier Tagen mit Blaulicht eine Brille für mich gebaut, die auf Notendistanz plus minus 20 cm ausgelegt ist.
Hektik im Einspielraum. Der Cembalist jagte mich mit gefühlt doppeltem Tempo noch einmal durchs kritische Allegro, was ich zu meiner Überraschung ganz gut gepackt habe. Meine Meisterin mustert mich besorgt und zückt eine Art Notfallköfferchen mit diversen Fläschchen drin.
Es sind Bachblüten-Präparate. Notfalltropfen. Der Schulmediziner in mir schmunzelt heimlich, lässt sich mehr aus gutem Willen die doppelte empfohlene Dosis auf die Zunge träufeln. Ist eh nur ein bisschen Alkohol drin...welch grausame Täuschung.
Die gepolsterte Tür geht auf. " Geh, geh schon, JETZT!" Der Cembalist übernimmt routiniert die Führung. Die Treppe zum Schafott ist schwarz. Gegenlicht durch die Scheinwerfer blendet unangenehm. Bloß jetzt nicht stolpern. Die neue Brille ist gnädig: Ich sehe nur verschwommene Konturen da unten im Halbdunkel mit den viel zu vielen Kopf-Silhouetten. Ich stehe GANZ ALLEIN vor dem Notenpult, kontrolliere dessen Höhe. A-Dur Arpeggio vom Cembalo. Noch einmal. Ach ja, stimmen. Hohes A. Hohes A? Verflixt, verflixt, wie geht der Griff für das Sch...-A?! Oommmmm. Aaaaaaa. Daneben. Ich ziehe die Flöte etwas auf und staune, weil ich gar nicht zittere. Aaaaaaaaaaaaaa! Der Cembalist ist zufrieden, ich bin es auch.
Blättern. Zuerst das Solostück, Konzertetüde. Erden - Beine spüren - Erde - Luft tief aufnehmen. Ganz bewusst den ersten Ton anstützen- er bricht los. Die Musik fließt, der Saal trägt akustisch, ja, es läuft!
Ich spüre keine Nervosität, bin voll konzentriert, fühle trotzdem eine wunderbare Leichtigkeit, ein Schweben durch die Takte.
Schlusston. Fehlerfrei durch! Applaus brandet auf. Das merkwürdige Schwebegefühl hält an. So hatte ich das noch nie. Noch ein kurzes Aaaaaa, Nicken, Blättern, jetzt kommen die Sonaten mit all ihren Klippen.
Komisch, da ist plötzlich wieder so ein Gefühl wie sonst nach dem ersten Bier. Die ersten zwei Sätze sind gut gelaufen, der dritte, ein Largo, war so fein, dass sich ein großes Glücksgefühl breit gemacht hat.
Dieses gemeine Allegro am Schluss fehlte noch, der technisch härteste Teil des Konzerts. Und plötzlich wusste ich: Die Notfall-Tropfen waren längst dabei, mich high zu machen. Der Drang, grundlos los zu prusten, wuchs gefährlich. Dann verschluckte ich in einem mörderischen Sechzehntellauf einen Ton und fand das unheimlich lustig. Etwas später musste ich doppelt so oft atmen wie geplant und fand auch das sehr lustig. Ich schwebte auf den silbernen Wolken des Cembalos und fand es toll, zwischendurch ein paar Takte zu improvisieren. Der Cembalist bekam etwas größere Augen, fing mich aber wieder ein. Trotzdem war ich dann doch froh, als die Schlusskadenz gelang wie ausgetüftelt.
Verneigen, theatralisches gegenseitiges Schulterklopfen mit dem Cembalisten, ganz vorsichtig über die Treppe stolpern - in die schützende Finsternis. Alles dreht sich.
So sieht also ein Notfall-Tropfen Rausch aus. Ich denke, ich habe gestern viel gelernt, musikalisch und medizinisch, unglaublich.
Noch am Nachmittag war ich zwar erschöpft und wie gelähmt, aber zugleich immer noch blöde überlustig. Hihi!
Die Professorin meinte im Vorbeigehen, es wäre ja eh nicht so übel gelaufen, bis zur Übertrittsprüfung wäre aber noch einiges zu tun.
Das glaube ich ihr aufs Wort. Die ausführliche Nachbesprechung erfolgt nächste Woche.
Nächster Montag: Test Funktionstheorie Dienstag: Präsentation Akustik Mittwoch: Nachbesprechung Konzert Donnerstag: Orchesterprobe Salzburg
Freitag+Samstag: Orgelproben solo Sonntag + Montag: Kirchenkonzerte in Salzburg.
Dann hoffentlich kurze Pause.
Ich danke allen bisherigen Daumenquetschern und-rinnen hier! Scheint zu wirken...