Durchgezogen!
Nach einer unruhigen Nacht stieg ich vorgestern um sechs Uhr morgens in den Zug Richtung Norden. Flöten, Noten, einen nagelneuen Reisepass, sowie sämtliche Zeugnisse und Dokumente hatte ich in meinen Pilotenkoffer gepackt, alles Übrige in einen kleinen Rucksack. Ich bin absolut kein Morgenmensch. Mit noch bleierner Müdigkeit hatte ich den obligaten "Pappenschoner" übers Gesicht gezogen und ertrug mit einem unterdrückten Fluch die langsame Erstickung durch das sich anreichernde CO2. Am Ziel riss ich mir erst einmal das Ding vom Gesicht und atmete tief durch. Mit einem Taxi erreichte ich dann die Musikhochschule, ein wahrlich imposantes Bauwerk im imperialen Stil, sehr schön gelegen.
Eine sehr freundliche Sekretärin war offensichtlich über mein Kommen unterrichtet. Sie wies mir einen Übungsraum für das Einspielen zu, zeigte mir den Weg zu den essentiellen Dingen, wie jenen zum nächstgelegenen Örtchen etc.. Frau Professor würde mich abholen kommen, hieß es. Nun gut. Es war mittlerweile 9 Uhr geworden, um zehn sollte die Show beginnen. Wie tags zuvor generalstabsmäßig geplant, verdrückte ich eine Banane und leerte eine Flasche mit isotonischem Getränk. Dann Flöten zusammenstecken und einspielen, den Ton suchen... In dieser Umgebung, die mich durchaus an das Innsbrucker Konservatorium erinnerte, begann dann doch mein Puls zu steigen.
Um halb zehn drückte ich mir eine Pipettenfüllung Notfalltropfen unter die Zunge, gerade noch rechtzeitig, bevor die Tür aufging. Herein trat eine maskierte Dame, die mich nett begrüßte. Ich erkannte sie an der Stimme aus den vorangegangenen Telefonaten. Sollte sie mit einigem Glück meine neue Meisterin werden?
Nach einigem Smalltalk führte sie mich durch das Labyrinth des Musentempels zum Vorraum des Prüfungssaals, wo sie mir einen wiederum maskierten Brillenträger vorstellte, den Cembalisten, mit dem ich nun noch einige Details für die begleiteten Stücke besprechen konnte. Innerlich schüttle ich den Kopf: Ich sehe den Mann zum ersten Mal, nie zuvor hatte ich mit ihm gespielt! Auch wenn er sehr routiniert und beruhigend wirkt, spüre ich nun mein Herz gegen die Brustwand schlagen. Aber da ist keine Zeit zum Bereuen oder Zaudern mehr, die Professorin winkt uns in den Prüfungssaal. Auf einer kleinen Bühne steht ein Cembalo, auch eine sehr junge Studentin (?) wartet dort, sie wurde offenbar fürs Umblättern eingeteilt. Vor dem Podium aber steht ein langer Tisch, an dem neben der Professorin noch ein älterer und ein jüngerer Mann sitzen, ebenfalls mit Lappen maskiert. Das entbehrt nicht einer gewissen heiteren Note, aber ich hätte halt schon gerne mehr von den Gesichtern gesehen, allein schon, um die Stimmung beurteilen zu können.
Man fragt, ob ich also der Herr Sowieso aus Tirol sei und wie mein bisheriges Flötenstudium so verlaufen sei, und warum ich denn nun hier weitermachen wolle. Ich versuche, möglichst prägnant zu antworten. Dann darf ich mir den Einstieg ins Vorspiel aussuchen. Ich wähle die Canzon von Frescobaldi. Stimmen…. aaaaaaaaaaa! Ja, in 415Hz, bitte. Energie und Luft in die Beine senden... Wurzeln schlagen, aufblasen; vergessen, dass in diesem Moment kein rettender Notenständer vor mir steht. Einsatz Cembalo, kurz darauf jubiliert meine Ganassi dazu, mit einem ornamentalen Aufstieg beginnend, der mir so ideal aus den Fingern perlt, dass ich pures Glück empfinde. Es ist unglaublich: Nie haben der Cembalist und ich gemeinsam gespielt. Und doch liefern wir jetzt einen musikalischen Dialog ab, wie ich ihn mir schon immer gewünscht hatte. Am Ende fühle ich mich ungeheuer leicht... Hat es der Kommission gefallen? Keine Ahnung – die blöden Masken verdecken die Mimik. Zumindest krampft keiner auf seinem Sessel. Ein schneller Blick zum Cembalisten wird mit einem Zwinkern quittiert. Tja...
Als Nächstes wird die Fantasie von Telemann gewünscht, wieder auswendig. Ich habe ein überwiegend fotografisches Gedächtnis und schlage in Gedanken die erste Seite auf. Gott sei Dank, sie ist klar und deutlich vor meinem geistigen Auge! Der Einstieg sitzt, ich habe genug Luft, was bei diesem Stück nicht immer so war. Die Musik scheint mich zu tragen. Ich spiele mit geschlossenen Augen und fühle mich wie wohl ein Surfer auf einer guten Welle, die trägt, immer weiter und weiter durch die Intervallsprünge, die alle einen wunderbaren Halt im zugehörigen Grundton finden. Mein Ebenholz-Liebling lässt mich nicht im Stich, sie singt für mich. Ich lebe im Metrum, bin Teil davon geworden. Im schnellen Teil zuckt mir einmal ein Finger vom korrekten Loch weg, sowas Blödes, aber immerhin resultiert ein harmonieeigener Ton... Oh, Mann! Am Ende herrscht erstmal beunruhigende Stille da unten. Nicht nachdenken, nicht nachdenken.
Der ältere Prüfer möchte den ersten, langsamen Satz von Philidors Sonate hören. Ich versuche, mich gedanklich ganz schnell auf den Franzosen einzustellen. Stimmen und los geht’s. Ich versuche, das Stück nicht -wie so oft beim Üben- allzu langsam zu nehmen. Das bringt zwar „Schmalz“, rächt sich aber furchtbar, wenn dann die Luft nicht reicht. Dieses Stück hatte mir bei der Vorbereitung das größte Kopfzerbrechen bereitet, vermutlich, weil ich mit den Franzosen bis dahin einfach noch nicht allzu vertraut war, was insbesondere zu Unsicherheiten bei der Ausführung der Ornamente führte. Nun ließ ich aus einem Bauchgefühl heraus mutig drei oder vier dieser Verzierungen weg. Besser weg als falsch, schoss es mir durch den Kopf. Kurz vor dem Ende hatte ich ein Blackout. Davor hatte ich mich immer so sehr gefürchtet. Nun war es passiert: Das Notenblatt im Kopf war weg! Ich weiß nicht, wie, aber offenbar hatten die Stoßgebete doch etwas bewirkt: Meine Finger spielten praktisch ohne bewusstes Futter vom Großhirn die letzten Takte selbständig fertig. Trotzdem war ich jetzt in Schweiß gebadet, meine Knie schlotterten. Den Schlusston hatte ich eindeutig viel zu kurz genommen, fast abgerissen. Hoffentlich haben die da unten nicht allzu viel von diesem Verzweiflungs-Einbruch bemerkt…
Die Prüferin wünscht sich nun den Mittelteil von Dorwarths Vogelbuch. Soll sie haben. Nach einigen tiefen Atemzügen habe ich meine Nerven wieder halbwegs im Griff und denke „Alter Depp, ist doch eh wurscht!“. Bei diesem Stück war mir das Auswendiglernen relativ leichtgefallen, vielleicht, weil die Besonderheiten der Notation das reine Ablesen hier auch nicht unbedingt einfacher machen. Am Ende sehe ich trotz der strengen Masken so etwas wie entspannte Heiterkeit am Prüfertisch aufkommen. Mein Spiel hat wohl amüsiert.
Der ältere Herr fordert mich auf, ein Notenpult nach vorne zu holen und für mich einzurichten. Dem komme ich nur zu gerne nach! Endlich! Ich darf jetzt zwischen der Courante aus Bachs Partita und dem 3. Satz aus Vivaldis F-Dur Konzert wählen. Hier entscheide ich mich taktisch für Sicherheit und damit für Vivaldi. Zwar gehört Bachs Partita zu meinen absoluten Lieblingen, aber die Courante enthält einen Triller auf dem hohen Fis, der auch noch gedackt zu spielen ist. Sein Gelingen hängt bei mir immer ein wenig von der Tagesverfassung, der momentanen Beweglichkeit im Kreuz und einer Portion Glück ab. Ich blicke zum Cembalo. Noch einmal nachstimmen, das gewünschte Tempo andeuten. Und schon fährt das Allegro ab. Ganz bewusst artikuliere ich überdeutlich, versuche im Geiste mit zu tanzen, hach, es läuft, die Melodie perlt dahin, hemmungslos, ohne Angst vor dem Tempo. Das Cembalo liefert eine beschwingt-federnde Begleitung dazu, die vergessen lässt, dass dafür normalerweise ein kleines Orchester nötig ist. Noch einmal die letzte Phrase, Schlusston mit geschlossenen Augen, die Flöte bleibt noch einen Augenblick am Mund. Stille. Der Cembalist deutet Applaus an(!).
Die Brüggen-Etüde bleibt mir offensichtlich erspart. Die zwei männlichen Prüfer bedanken sich für mein Spiel und verlassen den Saal. Es ist vollbracht. Dankbar winke ich dem Cembalisten zu, er erwidert den Gruß. Die Professorin meint noch, ich solle mich schon mal darauf einstellen, in etwa 14 Tagen wieder hierher zu kommen. Definitives würde ich binnen einer Woche via E-Mail erfahren. Sie schickt mich noch einmal ins Sekretariat, wo ich meinen Packen Zeugnisse für das Anrechnungsverfahren abgeben muss und verabschiedet sich. Nach Klärung diverser Formalitäten verlasse ich das Institut und atme irgendwie befreit ganz tief die frische Luft ein.
Wieder im Zug nicke ich trotz des grauslich-starken Kaffees an Bord ständig weg. Ich bin völlig fertig, aber glücklich, dieses Unternehmen, zumindest ohne gröberes musikalisches Debakel, durchgestanden zu haben. Es scheint wieder vieles offen zu sein. Lasset die Spiele beginnen!