Boah, schwere Auswahl, aber schöner Thread. Als Vertreter der eher jüngeren Generation (1994) versuche ich mich hier mal auch an zehn Favoriten, ausgehend von Musiksozialisation, Vergangenheit, Zeug das ich auch heut noch höre, und wahrscheinlich sieht diese Liste übermorgen wieder anders aus.
Dennoch, hier eine definitiv prägende personal Top Ten:
Steps Ahead - Sidewalk Maneuvers
Was bleibt haften als Kind eines Jazzmusikers? Klar, Jazz, in sämtlichen Formen und Farben. Wahrscheinlich könnte ich alleine da eine Top 10 zusammenwerfen. Steps Ahead stechen da zwischen Tradition, Moderne und Wahnsinn aber sicher heraus, und das 1992er Album "Ying Yang" ist wohl die mit wichtigste Prägung als Kind, als auch in der Jugend. Ist aber auch einfach eine schöne Scheibe. Wie man nach dem Abgang von Kalibern der Marke Brecker und Stern so dermassen seine Qualität hielt, und mit den damals recht unbekannten Bendik Hofseth und Rachel Z. einen wunderbaren Hybrid aus klassischem Jazz und gewagt neuen Strömungen fabriziert und dabei zu keinem Zeitpunkt gewollt aber nicht gekonnt klingt, ringt einem schon Erstaunen ab. "Sidewalk Maneuvers" steht hier als Opener symbolisch für das ganze Album; Leitthemen, Harmonien und Soli im besten Jazzverständnis, aber darunter pulsieren ein ambivalenter Synthesizer, zerfahrene Saitenarbeit und stur durchgezogene Drums - und eröffnen hier, was auf Albumlänge noch in beide Ideenrichtungen erblühen soll und enden wird in der vielleicht besten Version der vielleicht besten Mike Manieri - Komposition: "Sara's Touch".
David Byrne - Like Humans Do
Apropos Kind: Wo wir grad dabei waren. Ich bin ein Windows XP-Kind. Zumindest damals zur Jahrtausendwende (und ich weiss warum ich seither einen Mac benutze). Und wie alle mittlerweile erwachsenen Windows-XP-Kinder, die sich auf YouTube unter diesem Song treffen, hab auch ich damals zum Dauerloop dieses Songs (und Bethoovens Neunter) in fliegende Partikel und sonstige Visualisierungen gestarrt. Oder es lief einfach im Hintergrund. Im Nachhinein betrachtet eine gute Sache, hat es mir doch damals schon subtil den Horizont erweitert in Richtung all dieser musikalischen Strömungen, die Byrne in seinem Soloschaffen vereint. Über ein Jahrzehnt später dann auch irgendwann die Talking Heads und das politische Schaffen von Byrne kennen und schätzen gelernt - und vorletztes Jahr das vielleicht beste Konzert meines bisherigen Lebens gesehen - und "Like Humans Do" mittendrin.
Splifftastic - VBT 2012 Achtel HR vs. Persteasy
Prägung meines Erwachsenwerdens: Deutscher Battlerap. Ich bin wählerisch geworden, was Rap und Hiphop angeht. Ich mag ihn vom Konzept her und hasse so ziemlich alle seiner Strömungen. Aber das Videobattleturnier von rappers.in hat einen Platz in meinem Herzen, und sein zweifacher Gewinner Splifftastic einen Platz in meiner Playlist bis heute. Hier verlinkte Runde aus 2012 ist mehr vielgehörter Platzhalter seines über 30 Runden als alleiniges Highlight - und hier könnten auch Kunstwerke wie die 2011er 16tel Hinrunde von 3pluss, die 2013er Viertel-Rückrunde von BlaDesa oder die 2016er Final-Hinrunde von MeL-Techrap stehen. Allen gemeinsam ist ihr ungezwungener Spass am Wort-Sport, der ausgefallene Humor und ein exzellenter Beatgeschmack bei gleichzeitiger Gegnervernichtung. Hätte hier ja gerne "ernsthafte" Musiker verlinkt, aber irgendwie prägte nichts meine Liebe zum Rap-Genre so sehr wie deutscher Nachwuchsrap der sich auf YouTube beleidigt - auf eine wahnsinnig unterhaltsame Art.
Coldplay - Charlie Brown
Hach, Coldplay... Ich glaube, nichts in meinem Musikgeschmack wurde dermassen von meinem Umfeld geprägt wie mein Faible für ausgewählte Stücke dieser Band, die man gleichzeitig lieben und hassen will. Man mag den primären Teil ihres Outputs sterbenslangweilig finden, aber dann stechen da diese paar Songs wie Leuchttürme aus dem egalen Pop-Einheitsbrei raus und treffen einfach immer wieder ins Schwarze, egal wo und in welchem Zustand man sie grad hört: "Yellow", "In My Place", "White Shadows", "Violet Hill", "Strawberry Swing"... so muss Massenpop, und das kann man dann auch im Auto anmachen, wo sich bei Jazz und Prog jeder beschweren würde. "Charlie Brown" mit seinem cleveren Mix aus Sounddesign und Hookline steht dabei als persönliches Erinnerungsmonument an einen Spätherbst 2013, als einem gefühlt die Welt offen stand. Sweet last teenage year...
Lothar Kosse - Bis ans Ende der Welt
Moderne Kirchenmusik ist in den allermeisten Fällen ein massives Ärgernis. Viel zu oft macht man eher Rockmusik schlechter als den Glauben attraktiver, die Industrie ist purer Krebs, die Inhalte desöfteren grundfalsch und allgemein ist das ganze eher ein Zug in den Abgrund als wirklich förderlich für irgendwas. Und musikalisch macht das oft auch sehr wenig her, klingt's doch viel zu oft nach U2 in schlecht, und das seit dreissig Jahren. Lothar Kosse bildet hier einen interessanten Kontrast. Nicht immer, aber doch immer wieder, gelingen ihm eigentlich einfache, aber inhaltlich tiefgehende Songs, und sein unglaublich variables Gitarrenspiel trägt seinen Teil dazu bei. Hier als Schredder auf Instrumentalalben, der es auch mit den ganz grossen aufnehmen könnte, dann wieder als frommer Poet zur differenziert gezupften cleanen E-Gitarre, und oftmals irgendwo dazwischen. Die im deutschsprachigen Raum weit verbreitete Lobpreisballade "Bis ans Ende der Welt" liegt hier in der - mMn besten - Originalversion mit der damals aufstrebenden Sängerin Anja Lehmann vor. Grosse Inhalte, grosse Musik, grosse Kunst.
Dinosaur Jr - Been There All The Time
2007 stand eigentlich im Zeichen von Dream Theater, die einem damals dreizehnjährigen, der bisher eher behütet in zwar sperrigem Jazz, aber sonst eher in Watte gepackten "normaler Musik" aufwuchs, die Welt der komplexen Rockmusik eröffneten. In dieser neuen Erfahrung, die den Gainregler gegen 11 aufdrehte und die Härte in ungeahnte Höhen schraubte, wirkte die damals begeistert mitgenommene Dinosaur Jr. - Reunion mit dem "beyond" - Album eigentlich wie eine Antithese (welche die Eltern, die was von Musik verstanden, zuweilen mehr zu schocken verstand als all die brutalen Metalalben mit den bösen Texten). Wie wichtig sie sein sollte, wurde erst in der Retrospektive klar, eröffnete das ruppige Geschrammel mit den banalen Lyrics doch damals gleichzeitig ein Faible für Musik, die Emotion über Können stellte, ein Lebensgefühl über einen theoretischen Ansatz - und damit einer Tendenz zu musikalischem Snobismus vorbeugte, die sich einige Jahre später in Begeisterung für gekonnte Popmusik auflöste - auch wenn ich nach wie vor einen hohen musikalischen Anspruch zu schätzen weiss... aber ich bezeichne eben nicht mehr alle als Idioten, die keinen brauchen, um glücklich zu sein. Danke, Mann der aussieht wie seine eigene Oma, mit der lilanen Jazzmaster, dass du dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet hast.
Porcupine Tree - Time Flies
Wie ich anmerkte. Dream Theater, Progressive Metal. Die letzten drei Nullerjahre und eine prägende Zeit meiner Jugend bestanden aus harter komplexer Musik - in welche sich dann aber mehr und mehr ein Mann namens Steven Wilson mit seiner damaligen Band einschlich. Danke auch, Schlagzeuglehrer, für diesen letzten grossen Tipp zum Abschluss einer langen Unterrichtszeit. Damals noch nicht durchs Feuilleton geprügelt, von vielen als Geheimtipp gehandelt, das 013 in Tilburg voll machend anstelle den Ziggo Dome in Amsterdam, steht Wilson - bzw. das letzte Porcupine Tree - Album "The Incident" - in meiner Musikhistorie als Zäsur und Wendepunkt, verband es doch die bis dahin parallel laufenden Schienen "Emotion" und "Anspruch". "Time Flies" im speziellen steht heute noch vielmehr als Mahnmal der Vergänglichkeit der Dinge als damals mit fünfzehn, als die Welt noch sehr viel einfacher war, und die finale Gitarrenwand beschert mir auch eine Dekade später noch kalte Schauer über den Rücken.
Jamie XX - Loud Places
Mal was völlig anderes. Irgendwie mein Lieblingssong der 2010er-Jahre. Unterwarterweise. Was war das damals für ein Langweiler. Als wären die damals omnipräsenten The XX nicht schon langweilig genug. Aber eben, manches braucht Zeit. Und so änderte Loud Places nicht nur Stück für Stück (erneut) mein Verständnis für Pop, sondern gab auch unerwartet wichtige Impulse für Sampling, elektronische Musik und... zwischenmenschliche Gefühle. Auch wenn es - wenn überhaupt - nur eine Zeit meines Lebens (und das war nicht der Sommer seines Erscheinens, sondern Jahre später) mitprägte und nicht zum Soundtrack der Interaktion mit anderen Menschen mutierte - irgendwie generierte (und generiert) es eine Art Verständnis für Dinge, die man bis dahin unverständlich von aussen beobachtete. Ein Einblick in einen anderen Kopf quasi, und das bei einer so vagen Formulierung. Oder, wie es ein Kommentator auf YouTube passend formulierte: "This is one of those tracks that invokes nostalgia for something that hasn't happened yet". Passt.
Archive - Londinium (2011 Live Version)
Archive. Irgendwie so eine Truppe, vor der man übelst Respekt hat, aber kein klares Highlight benennen kann. Entweder weil sie so durchgängig gut sind oder so zeitlos, dass man nichts damit verbinden kann. Keine Emotionen, keine Highlights, keine prägenden Zeiten. Und trotzdem sind sie seit man vom Kumpel anno 2007 "Noise" auf USB-Stick bekommen hat, irgendwie da. Egal, was sie gerade machen. Egal ob man sich nonstop neu erfindet. Das Best-Of-Album zum Vierteljahrhundertejubiläum umfasste vier CD's, so viele Facetten hat das britische Kollektiv vorzuweisen. Entsprechend schwer ist es ein Highlight rauszusuchen. Entschieden hab ich mich für die Neuinterpretation des Titelsongs vom ersten Album von 1996, als der Prog-Hybrid noch ein ziemlich klassisches Trip Hop Projekt war - hier zur Zeit des symphonischen Mammutwerks "Controlling Crowds", aufgeführt in Athen, mit Original-Rapper Rosko John, und Archive-Hauptsänger Pollard Berrier, der die damalige Sängerin mehr als nur eindrucksvoll ersetzt. Aber eben. Platzhalter. Archive sind durch die Bank über ein Vierteljahrhundert weg eine beachtliche Referenz für gute Musik.
Steps Ahead - In A Sentimental Mood / Trains (Live in Tokyo 1986)
Den Abschluss macht das Album für die Insel. War "Ying Yang" das prägende Jazzalbum der Kindheit, so ist das hier das Jazzalbum der Jugend und des frühen Erwachsenseins. Ich will die beiden auch überhaupt nicht gegeneinander ausspielen, beides hat seinen Reiz, aber was Manieri, Brecker, Stern, Jones und Smith hier in Tokyo runter reissen, spottet jeder Beschreibung, das muss selbst gehört werden (Konzert gibt's in voller Länge auf YT). Die Grosstaten der frühen Steps Ahead, gerade des kurz zuvor erschienenen "Magnetic", umrahmt von älteren Klassikern, ein Wall of Sound von gerade einmal fünf Musikern und eine Handvoll Elektronik, mit denen sie perfekt umgehen können. Und dann diese Kompositionen. Egal was man von der Stilrichtung hält, dieses Album, diesen Livemitschnitt sollte man einmal gehört haben. Der Abschluss eines Hochkaräters von Liveauftritt macht ein emotionales Electronic-Wind-Instrument-Cover von Duke Ellingtons Klassiker, bevor das bandeigene "Trains" alles wegfegt. Der Moment, wo Brecker den EWI wegpackt und zum Saxofon greift... das muss man erlebt haben, und sei es nur aus der Konserve. All mein Neid den Japanern, die da vor Ort waren. Aber immerhin haben wir dieses Livealbum. Und das ist gut so.