Das war doch eigentlich immer so.
Ja und nein. In den 90ern war man schon erstaunt, dass man von der Uni eine Mail an jemand schicken konnte. Und es gab HTML-Internetauftritte. Downloads gab es auch, aber die Dateien waren verschwindend klein, Musikdateien von äußerst begrenzter Qualität. Mit der Bandbreite änderten sich die Möglichkeiten - wahrscheinlich erst ab 2000. So entstanden Bühnen im Netz, auf denen man sich zeigen konnte (Youtube, Vimeo etc.). Dabei werden Auftritte nicht mehr nur gezeigt, sondern bearbeitet. Möglich ist das von jedem für UMME. Möglich ist das, indem man sich selber beibringt, wie man so etwas machen kann. Das wiederum erzeugt äußerst ungewöhnliche und auch sehr kreative Bearbeitungen von vergleichsweise vielen Leuten.
Interessant ist nicht, dass es nun Präsenz erstens auf realen Bühnen, zweitens auf CDs, DVDs und drittens im Internet gibt. Interessant ist die Möglichkeit für die User, über ihre Eindrücke zu reden und zu schreiben. So entsteht eine neue Möglichkeit der Kommunikation, die wir genießen und unter der wir alle auch leiden (Trolls, Bashing, Fake News). Für den Künstler, der heute davon leben will, ist nicht die Qualität seiner Produktion nach klassischen Maßstäben entscheidend. Die Monetarisierbarkeit von Kunst richtet sich danach, ob sie einen Diskurs ermöglicht und befeuert (Klicks, Anzahl der Zitate unter einem Video und Verweise in anderen Medien). Knallhart: Nicht der Musikwissenschaftler befindet über die Qualität des Künstlers anhand des Notentextes. Der Medien-Informatiker zählt beispielsweise Links und Zitate im Netz. Nach dieser Auffassung macht der Künstler die beste Kunst, der am meisten zitiert wird. Und der Künstler ist herausragend, der auch noch in zwanzig Jahren zitiert wird. Es gibt also eine Evolution in der Musik, die wir quantitativ sichten und beschreiben können.
Ab jetzt arbeiten die Leute am Metaversum. Dabei geht es darum, eine künstliche Welt zu schaffen, in der man eintauchen kann. 3D-Brillen sind dafür nur ein Mittel zum Zweck. Diese Immersion wird die Kunstwelt noch einmal komplett verändern, weil die Kommunikation alle Sinne umfassen soll. Auch die Rückmeldungen auf ein Produkt werden mehr sein als ein Klick auf "Gefällt mir" oder ein kurzer Text unter ein Video.
Um zu dem anfangs geposteten Nahre-Sol-Akkordeonvideo zurückzukommen: Nahre Sol hat an der Julliard klassisches Klavier studiert. Es lohnt sich, sich mit ihr vertraut zu machen, denn man sieht, wie sie von ihrer Kunst in dieser vergleichsweise neuen Welt lebt. Was mir auffällt, dass bei all diesen Künstlern die Grenze zwischen privater Person und Auftrittsperson immer mehr fällt. Ich weiß nicht, ob ich als Künstler diesen wohl von der Öffentlichkeit erwarteten Striptease wollen würde.