Hi,
da ich nur sporadisch im Musiker-Forum unterwegs bin, habe ich erst jetzt diesen vielstimmigen Thread entdeckt, den ich weitestgehend auch kurz überflogen habe.
Als (ehemaliger) JTV-Power User möchte hierzu meine persönlichen Erfahrungen einbringen, weil ich denke, dass dies eine gute Ergänzung zum bereits Gesagten darstellt. Leider ist mir am Ende meines beitrags aufgefallen, dass er ziemlich lang geworden ist - sorry, wenn's wirklich interessiert, muss da jetzt leider durch
Ich spiele die JTVs (JTV59, JTV69, JTV89F) seit Anfang 2011 und habe damit so manche Stärken und Schwächen, die diese Gitarren haben / hatten, kennengelernt. Die Gitarren waren/sind bei mir auch Live in einer Cover Rock Band im Einsatz.
Einleitend hierzu zwei Statements, die ich im Folgenden näher erläutern werde:
Wer behauptet, dass Line6 mit den JTVs roaduntaugliche Spielzeug-Gitarren baut, die bestenfalls für den Heimgebrauch taugen, liegt falsch
Wer behauptet, dass die JTVs problemlos in einem Live-Betrieb eingesetzt werden können, liegt leider auch falsch
Hierzu meine Erfahrungen:
Keine der Gitarren hat mich, nachdem diese ordentlich eingerichtet wurden bzw. ich diese nach meinem Bedürfnissen habe umbauen lassen, in einer Probe oder gar auf der Bühne wirklich im Stich gelassen.
Die JTVs sind ordentliche Arbeitsgeräte, die unter Berücksichtigung was man dafür erhält, ihren Preis auch wert sind. Für (Live-)Musiker, die eine große Bandbreite an Stilrichtungen und Sounds abdecken müssen bzw. keine 4-5 Gitarren ständig mit sich herumschleppen wollen, kann eine JTV als Bestandteil des Gitarren-Equipments tatsächlich einen großen Vorteil haben. Es bestanden aber in der Zeit wo ich die JTVs gekauft habe (2011-2012) Qualitätsprobleme in der Fertigung, die zu wahrnehmbaren Produktionsmängeln geführt haben.
Selbst wenn man die E-Gitarren Modellings nicht mag, ist ein beschränkter JTV-Einsatz, z.B. auf die magnetischen Pickups (die völlig akzeptabel klingen) plus den Akustiksounds und Nutzung von speziellen Tunings, immer noch hochinteressant für den Live-Betrieb und sein Geld wert.
Hierzu ein paar konkrete Beispiele aus meiner täglichen Bandpraxis:
- Für mich als einziger Gitarrist in der Band ist die JTV bei einem Song wie "Hotel California" die einzige Alternative, um übergangslos von Akustik zu E-Gitarre zu wechseln.
- Bei Highway To Hell setze ich die JTV einen Ganzton tiefer gestimmt ein, weil unser Sänger sonst streiken würde.
- Bei Here Comes The Sun verwende ich auf der JTV das Akustikmodell und verwende ein spezielles Tuning, dass es mir ermöglicht, den Song ohne Capo (7. Bund) in der offenen Position zu spielen.
Die Alternativen mit herkömmlichem Equipment kann sich jeder selber ausdenken
Über die umfänglichen und guten Integrationsmöglichkeiten der JTV-Gitarren mit dem übrigen Line6 Equipment (POD HD-Modeller und DT-25 / DT-50 Amps mit digitaler Vorstufe und analoger Endstufe) wurde m.E. hier noch wenig berichtet:
Gerade in Verbindung mit einem POD HD ergeben sich mannigfaltige Einsatzmöglichkeiten, die m.E. keine netten Spielereien sind, sondern sehr konkrete Live-Einsatzmöglichkeiten bieten.
So können z.B. die PU-Positionen eines bestimmten Gitarren-Modells per Fußschalter über ein POD-HD-Preset zusammen mit einem Wechsel der Effekte in der Signalkette gewechselt werden.
Nach einem entsprechender anfänglichen Zeitaufwand und einer nicht unerheblichen Lernkurve ergeben sich damit weitere tolle Möglichkeiten sein gesamtes Gitarren Setup auszugestalten.
Plug-and-play - und los geht's?
Das ist bei den JTVs nach meiner Erfahrung leider aber auch nicht der Fall.
Das liegt einerseits an den klanglich unterschiedlichen Gitarren selbst und andererseits an der Komplexität des gesamten Vorhabens (ich bringe mal eben eine Akustikgitarre plus 10 weitere E-Gitarrenmodelle in einem Bandgefüge gut ausbalanciert zum klingen
... ):
die Vielfältigkeit der Herausforderungen, wenn man unterschiedliche (echte) Gitarren in einer Band zum Klingen bringen will bzw. diese mit einem Amp, PA, Monitor verstärken muss, sind ALLE weiterhin vorhanden und müssen gelöst werden. Das löst auch eine JTV nicht von alleine (wird leider m.E. immer wieder vergessen).
Meine konkrete Erfahrungen zu den JTV-Modellen:
JTV69:
- Bei der JTV69 ist der Saitenabstand hohe E-Saite zum Griffbrettrand zu eng. Für ausgeprägte "Vibratorianer" ist das ein echtes Problem bzw. Show stopper. Das trifft auf meine JTV69 zu, die ich Anfang 2011 gekauft habe. (Ob das bei den heutigen Modellen noch so ist, weiß ich nicht.)
- Das Tremolo der JTV69 war bei mir anfangs defekt. Es ging ums Verrecken nicht mehr zurück auf normal und führte zur Verstimmung. Nach einem kostenlosen Austausch durch Line6 war das behoben.
- Das Griffbrett ist nicht jedermanns Geschmack: eher slim und vergleichsweise hohe Bünde. Es ist aber durchaus ok. Da ich mich darauf aber nicht zu Hause gefühlt habe, habe ich mir ein Warmoth-Griffbrett später eingebaut, mit dem diese Gitarre merklich aufgewertet wurde.
- Die magnetischen Pickups sind m.E. für einen Stratsound recht passabel. Der PAF-ähnliche Bridge Humbucker ist tonal und lautstärkenmässig gut mit den beiden Single Coils ausgewogen.
JTV59:
- Hier hatte ich keine Probleme, die ich auf schlechte Qualität zurückführen könnte. Die Gitarre ist sehr gut verarbeitet.
- Mein persönliches Problem waren die Jumbo-Bünde (wie bei Dieter Welzel). Wegen meines stärkeren Fingerdrucks hatte ich sehr grundlegende Intonationsprobleme in den ersten Bünden (1-3). Ich habe die Bünde runterschleifen lassen.
- Die magnetischen Pickups klingen recht gut in Richtung Gibson/Les Paul.
JTV89F:
- Beim Anlieferung waren die Piezo-Pickups für die E+H-Saite defekt. Ich habe die Gitarre bei Thomann ausgetauscht. Ansonsten keine Probleme. Gut verarbeitet.
- Das Griffbrett ist schön flach, geht in Richtung Ibanez wizard.
- Die magnetischen Pickups sind ok, aber jetzt nicht vergleichbar mit meinen aktuellen Lieblingen Suhr Doug Aldrich pickups.
Modelling Software / Gitarrenmodelle:
Die neueste SW-Version ist meines Erachtens hinsichtlich der Gitarrenmodelle schon sehr ausgereift:
im Gegensatz zu früheren JTV FW-Versionen ist jetzt auch mehr Differenzierung bei einzelnen Pickups der Modelle erkennbar. Insgesamt deutlich mehr Dynamik als vorher beim Anschlag. Die Modelle sind in ihrer Umsetzung aber Geschmacksache. Teilweise kommen sie recht gut an die Originale ran.
Die Akustikmodelle selbst sind ganz passabel. Ich benutze die 12-saitigen und 6-saitigen Modelle auch Live. Man muss jedoch sehr auf die Anschlagintensität der Finger bzw. Plektrum achten, da das Modelling heftig auf etwas stärkeren Anschlag reagiert (light touch).
Für Studioarbeit habe ich am Anfang des Jahres keine JTV-Modellings verwendet, sondern die Akustikparts mit meiner Godin bzw. die E-Gitarrenparts mit magnetischer JTV-Schaltung bzw. anderen E-Gitarren genutzt. Wenn man Zeit und entsprechendes Equipment im Studio hat, dann sind die Originale mit entsprechender Mikrofonierung m.E. immer noch besser. Für den Live-Einsatz aber sehr wohl tauglich.
Ein großes Problem sind m.E. die unterschiedlichen Lautstärken der Gitarren-Modelle: hier ist ein nicht unerheblicher Anpassungsprozess mit der JTV-Software notwendig, wenn man viele verschiedene nutzt.
Es gibt eine Latenz, die ich mit JTVs verspüre. Diese ist aber nicht besonders hoch und auch nicht wirklich störend für mich. Man spürt die Latenz besonders, wenn man längere Zeit auf einer "normalen" Gitarre gespielt hat und dann eine JTV in die Hand nimmt. Die Anpassung erfolgt aber relativ schnell.
Akustikverstärkung:
Wie bereits in diesem Thread erwähnt, kann man die Akustiksounds nicht eben über den E-Gitarrenverstärker laufen lassen. (Das wäre auch etwas naiv).
Zur Nutzung von E-Gitarrensound und Akustiksound müssen zwei Signalwege für die Ausgabe gewählt werden. Und die einzelnen Komponenten der Ausgabewege müssen dem eben auch Rechnung tragen. Ich schleuse die Akustiksounds über den stereofähigen FX-Sendweg des POD HD500 direkt in den PA-Mixer. Von dort erhalte ich das Signal zurück auf meinen ohnehin vorhandenen Floor-Monitor. Das ist ziemlich simpel und funktioniert problemlos und klingt astrein.
JTV69- Aufnahme (Akustik und E-Gitarrenmodelle):
Nachfolgend eine Aufnahme von Hotel California, die ich 2012 zu einem Playback gemacht habe. Ich habe sämtliche Gitarrenspuren (Akustik, Rhythmus, 2-stimmige Harmonien, Leadparts) mit meiner JTV69 eingespielt und hierbei folgende Gitarren Modelle verwendet:
- Martin Akustik, 12-saitig
- Fender Stratocaster
- Gibson ES-335
Für die Aufnahme habe ich hierzu auch den Line6 POD HD500 und diverse Amp-Modelle und Effekte verwendet. Mein Vibrato ist zwar aus heutiger Sicht eher bescheiden, die Aufnahme selbst ist m.E. ganz ok und zeigt, was mit einer JTV machbar ist, wenn man gewillt ist, sich mit dieser Technologie im Detail auseinander zu setzen:
http://www.soundclick.com/player/single_player.cfm?songid=11620039&q=hi&newref=1
Wie ich die JTVs heute nutze:
Wenn ich die letzten 3 Jahre zurückblicke, dann hat sich bei mir ein reduzierter Einsatz der JTVs eingestellt: ich nutze sie heute im Live im Wesentlichen:
- Als Backup-Gitarre
- Bei Akustiksounds verbunden mit E-Gitarrensounds in einem Song
- Für spezielle Tunings
Was mich persönlich dazu gebracht hat, ist der Zeitaufwand, den man mit Tweaking, Herumtüfteln an Sounds, Einstellungen, Einspielen von neuen FW-Releases, Anpassen der bestehenden Presets wegen neuem FW-Release, verbringt:
Man läuft, aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten, Gefahr sich in ein Stück weit zu verlieren und entwickelt - eigentlich ungewollt - eine Komplexität im eigenen Setup, das zu einem Problem werden kann. So war es zumindestens bei mir. Heute ist für mich Einfachheit wichtiger denn je.
Ich rate daher jedem, der sich mit JTVs und insbesondere mit der Integration mit POH HD und DT-25 / DT-50 beschäftigt, die Anzahl an verwendeten Modellen (ob Gitarren oder Amps, oder Effekte), so gering wie nur irgend möglich zu halten. Ansonsten holen einen neue FW-Release irgendwann ein (da man aber natürlich nicht zwingend machen muss), die eventuell viel Zeit zur Adaption benötigten, die man sinnvoller fürs Üben verwenden sollte.
Insbesondere der letzte große JTV FW-Wechsel im Sommer 2013 hat mich dermaßen viel Zeit gekostet, um meine Presets anzupassen, dass ich beschlossen habe, die JTV-Einsatz wie gesagt auf das beschriebene Maß zurückzufahren.
In der Zwischenzeit habe ich meine Liebe zu herkömmlichen Gitarren wieder entdeckt und mir bei Warmoth eine Gitarre nach eigenen Vorstellungen konfiguriert. Diese H-S-H basierte Gitarre und die speziellen Pickupschaltungen (beide Humbucker sind separat Single Coil schaltbar) bieten mir so viele geile Soundmöglichkeiten, mit denen ich alles an E-Gitarrensounds abdecke, was ich in meiner Band benötige.
Die Diskussion Analog versus Digital, die beim Einsatz von Modelling-Technologie immer aufkommt und die Welt vermeintlich in zwei Lager spaltet, finde ich persönlich mittlerweile albern:
digitale Modelling-Technologie ist heute sehr ausgereift. Ein
dosierter Einsatz (ob zu Hause, im Studio, oder Live) kann sehr viel Sinn machen. Wer sich da es geht doch nix über meine alte
-Haltung beschränkt, hat irgendwie den Startschuß nicht gehört und nimmt sich m.E. interessante Möglichkeiten.
Wahrscheinlich bloß viele Wort und wieder mal nix gesagt
Grüße wolbai