So einen ähnlichen Vergleich wollt ich auch bringen.
Wenn man so ein Bild nachmalen kann und dann seine eigenen Schlenker reinbringt ist das völlig legitim.
Aber das Originalbild bitte in Ruhe lassen.
Nun, ich denke da gibt es schon einen wesentlichen Unterschied. Ein Bild ist ein abgeschlossenes Kunstwerk eines (oftmals) einzelnen Künstlers. Eine Komposition dagegen ist lediglich ein künstlerisches Teilprodukt, welche eines Interpreten bedarf um tatsächlich zur klingenden Musik zu werden. Es gibt hier also nicht einen einzelnen Werkautor, sondern eine Kollaboration zwischen verschiedenen Künstlern zu verschiedenen Zeiten welche zum eigentlichen musikalischen "Werk" führt. Einen Vergleich mit einem Kochrezept fände ich daher passender: Die Frage hier wäre also in wiefern es legitim ist, eine Speise nach Rezept eines bekannten Meisterkochs zuzubereiten, es aber zu modifizieren und das Resultat trotzdem as "Rezept von Koch X" zu bezeichnen.
Diesbezüglich ist vor allem festzustellen, dass weder ein Kochrezept noch eine Komposition jemals völlig adäquate Repräsentationen klingender Musik sind. Jegliche Form von Notation solcher Dinge ist stets nur eine vage Annäherung mit vielen Mängeln und starken Vereinfachungen. (Weswegen ja die ersten Anfänge musikalischer Notation von den musikbewahrenden Geistlichen auch vehement abgelehnt wurden, da die orale Weitergabe deutlich genauer und weniger "verfälschend" war.)
In Musik, welche uns zeitlich und kulturell sehr Nahe steht können wir oft davon ausgehen, dass wir aus dem Notentext deutlich herauslesen können, was der Komponist auf eine sehr bestimmte Art wollte, aber je weiter wir in die Vergangenheit gehen, desto unklarer wird das. Das fängt bei der Wahl der Instrumente an, bei Agogik, bei Fragen der Intonation und Stimmung etc., aber beinhaltet zum Teil selbst die Wahl der Rhythmik (siehe zum Beispiel die Praxis der "notes inégales" im Barock, welche dem Swing recht nahe kommt) und ganzer melodischer Gesten (z.B. in Louis Couperin's Préludes non mesurés).
Und dies sind nur die offensichtlich unklaren Elemente. Daneben gibt es aber auch zahllose Praktiken der Interpretation welche ganz bewusst darauf basieren ein Musikstück auf eine Weise zu spielen, wie es der Komponist
mit Sicherheit nicht wollen konnte. Glenn Gould wurde ja gerade erwähnt - besonders zu Beachten in dieser Hinsicht ist aber die Wahl des Instruments (moderner Konzertflügel) und dessen Stimmung (gleichschwebend Temperiert), welche beide mit historischer
Sicherheit nicht Bachs Vorstellungen entsprachen (da sie schlicht damals nicht existierten). Genau so verhält es sich, wenn wir heute ein Mozart Hornkonzert auf einem Ventilhorn spielen, bei freier Verwendung von Klavierpedalen, bei Gebrauch von orchestralem crescendo und diminuendo in Barockmusik, die Verwendung anderer Tempi als vom Komponisten angegeben etc. Dies sind alles ganz
bewusste Verfälschungen des Originals, welche wir jedoch in vielen Fällen als legitime Interpretationen hinnehmen. Die Frage stellt sich daher, wieso es plötzlich ein absolutes Tabu sein sollte eine einzelne Tonhöhe in einem Stück zu verändern, ohne das ganze Stück gleich als "Bearbeitung" verkaufen zu müssen. (Insbesondere wenn wir beachten, dass die Tonhöhen in einem bestimmten Rahmen durch verschiedene Stimmungen/Intonationen ohnehin verändert werden und ein bestimmter harmonischer Kontext je nach Stimmung sehr verschieden klingen kann.)
Ich denke nicht, dass es dafür eine Patentlösung gibt. Für mich wesentlich ist aber nicht ein sklavisches Einhalten des Notentextes, sondern eine Interpretation welche den Notentext
achtet. Es mag daher durchaus legitim sein, eine Note in einem Stück von Debussy zu verändern, meiner Meinung sollte dies aber ein
bewusster, überlegter Akt sein, und nicht einfach ein "irgendwie Daherspielen wie es gerade gefällt". Klar, keine Komposition ist je "perfekt" und kaum eine interpretatorische Entscheidung ist
undenkbar. Aber die Grundhaltung sollte meiner Meinung nach sein, erst zu versuchen, dem geschriebenen Text etwas abzugewinnen, selbst in Passagen welche uns fremd oder gar fehlerhaft vorkommen mögen - da wir auch davon ausgehen müssen, dass die Mehrzahl der Komponisten sehr viel Erfahrung, Reflexion, Zeit und Aufwand in jede Komposition stecken. Ich fände es daher "anständig", als Interpret ebenfalls bereit zu sein, die eigene Interpretation gründlich zu hinterfragen und sich klar darüber zu werden, wieso man eine bestimmte Stelle so und so spielt, und vielleicht anders als im Notentext angegeben. "Das hat mir halt beim Spielen gefallen" finde ich da etwas dürftig.