Hi Mathias,
Dein Thema triggert mich enorm, weil ich so viele Parallelen zu mir entdecke. Durch diese Täler bin ich auch gegangen (bzw befinde mich gerade darin).
Aber der Reihe nach:
ich schiebe gerade mal wieder Frust und verliere so langsam die Lust am Gitarre spielen/lernen.
Hehe... normal und kein Grund zur Sorge
Musik mache ich seit fast 50 Jahren (Klavier, Keyboard).
Gitarre spiele ich nun seit 2017 und seit 2019 mit Lehrer. (Davor mit music2me)
Dann bist Du ungefähr mein Jahrgang ('64) und hast auf Deine alten Tage (genau wie ich) nochmal zur Gitarre gegriffen. Bei mir kommt noch der Umstand hinzu, dass ich ne schwere Behinderung habe (die sogen. Glasknochenkrankheit) und normales "Üben" eigentlich ne extreme Anstrengung ist. Aber auch ich habe zuerst mit Klavier angefangen und dann so im Alter von 14 mit der Gitarre. Ist dann leider eingeschlafen und ich habe erst mit der "Corona-Krise" wieder zur Gitarre gegriffen. Nun, mit viel Freizeit und auch bißchen Lebenserfahrung aber mit Nachdruck. Also erst mal Hut ab für deinen Elan!
Ich versuche möglichst jeden Tag eine Stunde mit Plan zu üben. Die Übungen und den Fortschritt halte ich in einer Excel-Tabelle fest.
Soweit so gut.
Das gefällt mir schon mal sehr gut! Strukturiertes Vorgehen, analytische Ausarbeitung und sinnvolle Planung der Übungssessions. Schon mal das ist die halbe Miete. Ich mache es auch so. Wichtig ist m.E. auch, dass du dich so oft wie möglich selbst aufnimmst. Nicht nur auf Audio, sondern auch auf Video und dir dass ansiehst. Es ist einfach ein enormer Unterschied in der Wahrnehmung, wenn du selber spielst gegenüber dem, wenn du dich selber spielen hörst. Du wirst auf andere Dinge fokussiert sein. Im Video siehst du dann nochmal zusätzlich, wo du vielleicht komische, unergonomische Bewegungen machst, aber auch wie deine Körperhaltung, deine Spannung und dein Gesichtsausdruck ist. Wirkt es verkrampft, stimmt was nicht.
Aber Songs wie z.B. Glasgow Kiss (Introteil) oder das Solo von Bon Jovi - Runaway bringt mich völlig an meine Grenzen und ich werde da einfach nicht besser.
Glasgow Kiss hat 207bpm - ich schaffe maximal 160 sauber zu spielen. Bon Jovi ca.150 bpm machbar - bis auf den Legatoteil am Ende... da max. 115 bpm.
Auch andere Sachen - z.B. Last Resort Intro... auf Originaltempo 2-3 Mal sauber und dann verhaken sich meine Finger. Auch gut - das Solo von Accept mit Fast as a shark (ca. 140bpm - ich gerade mal 60-65)
Nun geht's an die Details. Und da musste und muss ich auch noch viel dazu lernen! Für mich stellt sich das so da:
Schnell spielen ("shredden
) ist NICHTS was man so einfach in einem linearen Lernschritt lernen kann (Also langsam üben, dann immer ein Tacken schneller...). Nein, es sind wirklich multiple Lernschritte nötig, ergonomischer Plektroneinsatz, minimale Fingerbewegungen, eine detaillierte Analyse der "Up-Down-Strokes" und vieles mehr. Das hört sich jetzt mega kompliziert an, aber so schwer ist es gar nicht.
Ich habe einen kleinen Vorteil, denn ich hatte mein Leben lang mit Verhaltens- und Lernbiologie zu tun. Ich habe also Lernverhalten bei Säugetieren studiert und konnte dort einiges mitnehmen.
Einer der wichtisten Maximen ist: VERMEIDE FEHLER.
Was bedeuet das nun für dich, wenn du Glassgow Kiss lernen willst? Du wirst es langsam üben und nach und nach versuchen, schneller zu werden. Was passiert dabei? Du wirst es lernen. Langsam. Aber langsam ist (vom Tempo betrachtet) einfach falsch. Du lernst es also "falsch" und hoffst, dass es mit der Zeit "richtiger" (schneller) wird. Probiere es mal mit der "Salamitaktik". Teile es auf in Parts von maximal 7 Tönen. Versuche diese erst langsam dann aber im richtigen Tempo zu spielen. Auch wenn's noch "schmutzig" klingt. Dann die nächste "Salamischeibe",...usw.
Denn es ist ein Lernprozess, den dein Gehirn durchmachen muss. Schnelle, wirklich schnelle Tonabfolgen überhaupt zu erkennen und dann noch die wirklich gut zu imitieren und in (manuelle) Fingerbewegungen umzusetzen.
Du solltest also zwei Dinge tun. Das Ganze Ding langsam üben um die Ergonomie deiner Bewegungen zu überprüfen. Up-Downstrokes, welcher Ton auf welcher Saite und auf welchem Bund fällt mir am leichtesten. Gleichzeitig aber auch winzige Parts schnell "dahinschludern" um zu checken "passt das so" auch wenn Speed drauf ist? Denn ggf. musst du da nochmal was umstellen.
Mein Lehrer sieht meinen Fortschritt zwar ganz anders als ich - aber es frustet ungemein, wenn die eigene Erwartungshaltung ist, dass ich solche Songs nach der Zeit locker spielen können sollte oder zumindest viel näher am Zieltempo dran sein sollte.
Denke da hat dein Lehrer recht. Eben weil er dich auch aus seiner Perspektive sieht (Stichwort Videoaufnahme machen). Denke auch, dass du grosse Fortschritte machst.
Ich meine Erwartung da einfach zu hoch oder kämpfe ich da gegen Windmühlen, weil ich nicht den richtigen Zugang zur Gitarre finde?
NEIN! Und ich finde das auch sehr schade, dass viele Antworten hier in diese Richtung gehen.
Meine Einstellung: Habe grosse, habe größte Ziele! Und staune, wie weit du kommst!
Wir beide werden wohl nie mit der Gitarre auf einer Bühne stehen und ein Publikum unterhalten müssen. Das kann auch ein Vorteil sein, wir sind frei im Kopf. Ich Wahnsinniger versuche mich gerade an dem Song von Joe Satriani "If I could fly". Angefixt durch das wunderbare Video von YOYO und weil ich den Drive des Songs einfach so sehr mag. Ich sah das zum ersten Mal 2020 und dachte... woa, schaffst du nie!
View: https://www.youtube.com/watch?v=LuLN5EGQbTM
Aber ich will es halt einfach! Und mittlerweile spiele ich die ersten 3 Minuten so leidlich auch nur noch knapp 20% unter Tempo. Und es wird halt jeden Tag ein Stückchen besser. Noch Welten von der Präzision von Yoyo entfernt, aber so ist es halt, wenn sich alte Männer mit extrem fleissigen, chinesichen Teenagern messen...
)
Also lange Rede... mach weiter, die Gitarre ist das richtige Instrumen und sei ehrgeizig ohne Ende!
lg Perkeo