Da sucht man nach einem Xennakis-Zitat und landet hier bei MB in diesem schönen Thread. Ich belebe also mal wieder, auch wenn mittlerweile niemandem mehr ein Rätsel sein dürfte, was Aggro Berlin ist.
ich würde gern meine 5 cent hier noch mit in den Pott werfen.
1. Das meiste, was uns U-Musikhörern neu vorkommt, ist in der E-Musik ein alter Hut. Die meisten Gedankengänge sind vorgezeichnet, warum man es mit U-Musik und einer entsprechenden Ausbildung nicht auf die Höhe der E-Zeit schafft ist mir ein Rätsel. Liegt wahrscheinlich an Berührungsängsten. Man müsste sich doch eigentlich etwas musikalische Bildung anlesen, und diese mit ein bisschen künstlerischem Ehrgeiz entsprechend umsetzen können. Das Problem, ist, dass Musik einen Ausgangspunkt braucht, Spielregeln, die ich nur nach und nach verändern kann und das sind eben unterschiedliche Regeln in U- und E-Musik. Ich denke, Postrock und Drone zeichnen den Weg in Richtung Minimal Music vor, da ist aber noch was drin. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Aleatorik in der U-Musik eine Rolle spielen wird, sofern irgendwer einen Weg findet, das kommensurabel zu machen. Vielleicht könnte man aleatorisch generierte Snare-Beats über einem stumpfen four-to-the-floor Bass als eine neue Entwicklung im Drum-'n-Bass verkaufen?
Es wird nebenbei vermutlich noch mehr die Vergangenheit ausgeschlachtet. Erstens werden wahrscheinlich immer obskurere Sachen zugänglich gemacht, die werden zweitens zu immer krauseren Kombinationen führen. Aber ich freu mich schon auf Kwanza-Industrial. Crossover birgt glaube ich immer noch einiges Potenzial.
2. Ihr unterschätzt die Charts. Klar, es gibt darin Bohlen-Produktionen und Musikantenstadl, aber eben ziemlich oft auch geiles Zeug. Im Augenblick das neueste von den Black Eyed Peas, das ziemlich toll mit dem Autotune-Effekt umgeht. Oder schon etwas länger her, aber unglaublich, Pharell Williams mit Snoop Dog "Drop it like it's Hot" sowas von großartigem Minimalismus. Madonnas "Music"-Album oder auch ein paar Aggro-Berlin Sachen. Vieles von dem Zeug ist nicht umsonst so erfolgreich. Und kommt mir jetzt nicht mit gelernten Akkordschemata, die finden sich auch in extrem vielem Kram, der erfolglos bleibt.
3. Das Internet wird überschätzt. Klar ändert Myspace etwas und iTunes und dass jeder durch digitale Mittel sein eigener Produzent sein kann, ist toll. Aber die Musik als Kunstform wird davon bestimmt nicht beeinflusst. Major Labels werden vermutlich schwächer, dafür werden Konzertagenturen mächtiger. Das ist aber letzten Endes egal, da beide nur die monetäre Seite sehen. Für die muss sich Musik verkaufen, was meines Erachtens in keinem Zusammenhang damit steht, ob sie auf der Höhe der Zeit ist oder nicht. Außerdem findet nicht nur eine immer stärkere Verbreiterung auf der Produzentenseite statt, sondern auch bei den Plattformen selbst. Ich nutze zum Beispiel lieber Soundcloud und Bandcamp als Myspace. Vermutlich gibt es aber noch so einige weitere Anbieter, von denen ich gar nichts weiß. Das wird auch irgendwann unübersichtlich und damit egal. Denn hinter dem Bildschirm sitzt nunmal immer noch ein einzelner und kein Rechenzentrum.
4. Das wahrscheinlich einzige, worin die U-Musik weiter ist, als die E-Musik ist der Sound. In der U-Musik gibt es nämlich mit dem Produzenten einen Spezialisten dafür, deswegen wird auch so extrem viel Wert auf den Sound gelegt, auf die richtige Gitarre mit der richtigen Saitenstärke durch ein Fuzz aber bitte mit Germanium in einen Röhrenverstärker nach Vintage-Specs ohne Klangregelung.
Mist, hab mich vergaloppiert
Zurück, der Sound wird, denke ich in Zukunft noch wichtiger werden, was in erster Linie an HipHop oder Elektro abzulesen ist. Hier ist der Produzent ja eigentlich derjenige, der die Musik macht und der Produzent denkt in aller Regel in Sounds. Ich glaube, wir werden in Zukunft alle mehr und mehr in Sounds denken und nicht in Noten. Das wird unter anderem bestimmt auch zu der oben imaginierten Tümpel-Musik führen. Aber es wird auch unser Verständnis von Musik verändern, indem eventuell derselbe Inhalt durch anderen Sound zu zwei als komplett unterschiedlich empfundenen Stücken führen kann. Oder im Umkehrschluss, unsere Nachfahren vielleicht Schwierigkeiten bekommen, zwei Akustikgitarrenstücke zu unterscheiden, eben wenn sie denselben Sound haben. Klingt erstmal wie eine Horrorvision, aber vielleicht nur, weil es sich von unserer Art, Musik zu hören, so sehr unterscheidet.
Das Xennakis-Zitat, das ich gesucht habe, lautet übrigens so:
"Musik ist keine Sprache. Mit seinen komplexen Formen, Furchen und eingravierten Mustern auf der Oberfläche und im Innern gleicht jedes Musikstück einem Felsblock, den Menschen auf unzählige Arten entziffern können, ohne je die richtige oder beste Antwort zu finden. Kraft dieser vielfältigen Auslegung evoziert Musik vergleichbar einem katalysierenden Kristall alle möglichen Phantasmagorien." Iannis Xenakis: Programmheftbeitrag La légende d'Er