Zumal ich Grimms Märchen für die meistüberschätzte Lidderadur halte
Ich glaube, es kommt darauf an, durch welche Brille man schaut ... ein weites Thema ... Was für mich sehr spannend ist, ist die Tatsache, dass sich kulturübergreifend (denn Volkserzählungen, Sagen, Fabeln, Märchen etc. gelangten schon sehr früh in andere Kulturkreise und von dort wieder zurück) einige Grundthemen, Motive und Erzählstränge (und -formen) erhalten haben bzw. sich in sehr vielen Kulturen etabliert haben. Das interpretiere ich als Resonanz - heißt: die Tatsache, dass Märchen mit ihren Themen und Motiven und Erzählformen in einer zum Teil tausendjährigen Geschichte mit allen tiefgreifenden Wechseln der Gesellschaften
nicht verschwunden sind, bedeutet für mich,
dass von etwas erzählt wird, das tief zum Menschsein gehört.
Da ist der Blues ja nicht weit weg. Da findest Du alle Katastrophen: Betrug, Scheidung und Verlassen-werden, Alles verlieren, bitterste Armut und Ausgrenzung, Tod, Ungerechtigkeit, Sucht ... und Du findest im Blues alle Mittel zu deren Bewältigung ... Blues ist sehr, sehr vielschichtig und ich werde mich hier nicht zu einer Definition versteigen - aber Blues ist unter anderem eine Erzählform - gehört also (wie das Märchen) zu "oral history"), in der das weitergegeben und überliefert wird, was wichtig zum existenziellen und kulturellen Leben ist, was Selbstbehauptung ermöglicht. Dazu gehört eben auch, dass verschiedene Bluesformen in bestimmten Zeiten und bestimmten Kulturen geprägt wurde und mittlerweile diese - wie immer man das deutet (ob als Aneignung oder als Austausch) - diese Kontexte verlassen hat.
Beim Bluestext könnte man ja auch was total unverständliches singen, oder sinnlose Silben.
Na ja - es gibt ja auch instrumentellen Blues, und zwar nicht zu knapp. Man muss also nicht singen, wenn man nicht will. Und in vielen Fällen ziehe ich das in der Tat vor. Ehe ich einen klischeebeladenen Text über "being down n out" anhöre, von jemandem, der ersichtlich weder die Erfahrung von Armut oder Ausgrenzung noch sich anderweitig kundig gemacht hat, ziehe ich ein beliebiges Solo vor (wobei es von denen ebenfalls etliche klischeebeladene gibt).
Wenn das ein Meister macht, wäre es trotzdem noch toll
Zustimmung! Es ist bei weitem nicht immer der Text. John Lee Hookers (ohne Gewähr darüber, ob er der Originalautor ist) "One Bourbon, one scotch, one beer" ist ein recht banaler Text darüber, wie jemand sich in einer Bar die Zeit vertreibt - nämlich, indem er sich mehr oder weniger gepflegt die Kante gibt. Aber es geht nicht um eine tolle Handlung, eine überraschende Wendung oder sonstwas - es geht um ein Gefühl, um einen Zustand. Und der wird musikalisch und gesanglich umgesetzt - das heißt: erfahrbar gemacht. Es geht nicht um Moral oder um eine Lösung. Es geht darum, dass jemand davon erzählt, wie es ihm geht.
Und meine Behauptung ist ganz einfach: So einen Text kann jede/r machen. Und natürlich kann er oder sie sich aller bestehenden und verfügbaren Texte, Themen, Motive, Beschreibungen etc. bedienen. Musikalisch oder textlich.
Aber das ist alles sowieso vergebens, wenn er oder sie sich nicht in die Figur, in das Gefühl hineinversetzen kann.
Und das ist es, was ein Meister macht.
Andersrum: wenn man sich wirklich in dieses Gefühl und diesen Zustand versetzen kann, dann bekommt man sowohl so einen Text hin als auch die entsprechende Musik. Eine entsprechende handwerkliche Fähigkeit hier mal vorausgesetzt.
x-Riff