Hier noch das Zitat von Erich Wolf zum Thema "melodisch Moll".
"Der zweite Tetrachord von melodisch Moll ist aufsteigend identisch mit dem von Dur, absteigend mit dem von reinem Moll. Die nach oben zielende Bewegungstendenz des zweiten Tetrachords in Aufwärtsbewegung wird im Abwärtsgang durch eine nach unten zielende kompensiert."
Erich Wolf, Die Musikausbildung, Band I, Allgemeine Musiklehre, Breitkopf & Härtel 1975
Dieser Text ist immerhin insofern erhellend, weil hier keine stereotype Regel aufgestellt wird, die in der Praxis eben weder stereotyp noch allgemein anwendbar wäre. Zudem benennt er die absteigende Linie korrekt mit "reinem Moll" (was gleichbedeutend ist mit "natürlich Moll"). Dann folgt noch eine Erklärung zur
Wirkung der unterschiedlichen unterschiedlichen Skalen, wenn aufwärts harm. Moll und abwärts nat. Moll genommen wird mit der man etwas anfangen kann.
Ich gehe davon aus, dass de la Motte natürlich Moll plus die Änderung von HM und MM meint und die Kirchentonleitern mit Moll Tendenz außen vor lässt? Sonst wären es 11?
Ich finde es weder Praxistauglich noch einfacher, aber wahrscheinlich ändert sich die Meinung mit dem persönlichen Fortschritt.
Mir kommt es (noch?) einfacher vor die getrennt zu betrachten und mir die Wechsel zu merken und warum etwas wechselt ...
De la Mottes Harmonielehre behandelt ausschließlich die Dur-Moll-Tonalität der "Klassik", moderne "E-Musik"-Genres wie Jazz, Pop usw. kommen nicht vor. Sie setzt um 1600 ein und zieht einen Faden durch bis zu den harmonischen Auflösungstendenzen der Moderne im 20. Jahrhundert.
Daher werden die Kirchentonleitern in dieser Harmonielehre praktisch nicht erwähnt, denn um 1600 beginnt sich das Dur-Moll-tonale System weitgehend zu etablieren und für die Komponisten spielen die Skalen des modalen Systems der früheren Epochen immer weniger eine Rolle. Die Oper tritt in die Musikgeschichte ein, womit auch die homophonen Satztypen sich immer mehr gegen die vorwiegend kontrapunktischen Formen der Epochen davor durchsetzen.
Die Modi einzubeziehen war für die Materie, um die es de la Motte geht, also nicht nötig.
Die Praxistauglichkeit seiner Harmonielehre ergibt sich aus der Fülle an Beispielen, die er bringt, und mit denen er seine Analysen untermauert. Regeln, sofern sie als solche überhaupt formuliert sind, leitet er alle aus dem vorliegenden Material ab, und sie betreffen stets die vorherrschenden Gepflogenheiten, Stilistiken und Hörgewohnheiten der jeweiligen Epoche.
Die ganzen Bücher sind am Ende auch nur Sammlungen von Leuten wie SIE etwas interpretiert haben und es für sie verständlich ist. Zeigt ja auch, dass Geschichtlich immer wieder Dinge gemacht wurden die dann wieder verpönt waren und umgekehrt ...
Mehr oder weniger ist es genau so.
Riemanns Funktionstheorie vom Ende des 19. Jahrhunderts ist dazu ein sehr gutes Beispiel. Als analytisches Werkzeug ist sie auf jeden Fall sinnvoll, weil sie mit ihrer Begrifflichkeit
Beziehungen von Harmonien zueinander und untereinander ("Funktionen") aufzeigen will.
Aber bis auf einige erste Überlegungen und Definitionen in diese Richtung von J.P. Rameau in seinem 1722 erschienenen Traktat zur Harmonielehre (die Riemann aufgreift und massiv erweitert) dachte niemand in früherer Zeit so umfassend funktionstheoretisch oder überhaupt im Sinne wie Riemann es ausformuliert.
Bach kannte Rameaus Schrift nachweislich nicht, er denkt und folgt noch gänzlich dem Generalbass wie er seit etwa 1600 in Gebrauch kam (und bis etwa 1800 in Gebrauch blieb).
Wer also Bach-Choräle mit Hilfe der Funktionstheorie analysiert, wird zwar auf jeden Fall sehr gute Erkenntnisse erlangen, weil die Funktionstheorie als analytisches Werkzeug gut passt und gut zugeschnitten ist auf eine Harmonik wie sie in diesen Chorälen zu finden ist (wie ja generell auf die Dur-Moll-Tonalität, solange sie nicht zu sehr ausufert und sozusagen ´ausfranst´ wie in der Spätromantik). Er sollte aber unbedingt den Irrtum vermeiden, Bach und seine Zeitgenossen hätten so gedacht oder gar solche oder ähnliche Begriffe verwendet.