Ich verstehe, was die Gute damit sagen will, habe aber regelrecht Mitleid mit ihr, weil sie vermutlich ohne es zu ahnen in die Falle von übertrieben differenzieren wollenden (Über-)Theoretikern getappt ist.
Denn auch in der klassischen Musik unterscheidet sich melodisch Moll aufwärts von melodisch Moll abwärts - genau nicht!
Danke für den wichtigen Hinweis.
Die Falle scheint mir schon durch - vor allem, aber nicht nur - ältere Lehrbücher zur Harmonielehre aufgestellt. Nicht jedes ist offenbar auf dem Stand von de la Motte. Auch Emily Remler erfuhr bis zu ihrem Abschluss am Berklee College um Mitte der '70er Jahre nichts anderes.
Im meinem Notenregal gehen mehrere klassische Harmonielehren nicht auf auf unser Thema ein, weil es von den Autoren zur elementaren Musiklehre gerechnet wird (Grabner, Krämer, Wolf).
Dachs/Söhner, Harmonielehre (Kösel-Verlag 1978, 9. Aufl. S. 141) leitet melodisch Moll aus Notwendigkeiten der Melodieführung in harmonisch Moll ab. Zitat der für uns wesentlichen Stelle: "Bei der melodischen Abwärtsbewegung ist der Leitton der VII. Stufe, der zwingend zur Tonika führt, nicht mehr notwendig; denn die Melodie verlässt die Tonika. Damit ist auch die Erhöhung der VI. Stufe gegenstandslos und fällt weg."
Ergänzend folgt weiteren Auführungen dazu diese Grafik:
Anderslautende Stellen in Kompositionen werden im Buch nicht erwähnt.
Als ich vor Jahrzehnten meine Grundkenntnsise erwarb hatte ich zunächst Quellen mit eindeutigen Aussagen zur Hand, die ich mir (zu) gut gemerkt habe.
Willy Schneider, Was man über Musik wissen muss (Schott 1954, S.17), Zitat: "Wir unterscheiden zweierlei Molltonleitern: harmonisch-Moll, bei welcher der 7. Ton erhöht wird, und melodisch-Moll, bei welcher aufwärts der 6. und 7. Ton erhöht wird, abwärts beide jedoch wieder aufgelöst werden... Die harmonische und die melodische Moll-Leiter entwickelten sich aus der äolischen (reines Moll)."
Lisl Hammaleser, Übungsprogramm Musiklehre compact (Schott 1882, S. 70) schreibt bei den Molltonarten nach Einführung von harmonsich und melodisch Moll geradezu monolithisch, Zitat: "In der abwärts gerichteten Tonleiter werden beide Erhöhungen wieder aufgehoben."
... und natürlich noch ein Blick in die Abteilung für Popularmusik:
Mike Schoenmehl, Jazz und Pop Musiklehre (Schott 2008, 3. Auflage, S. 80), Zitat: "In der klassischen Harmonielehre wird die melodische Molltonleiter abwärts anders geführt, nämlich so wie die natürlich Molltonleiter, das klingt geschmeidiger."
Fritsch/Kellert/Lonardoni, Harmonielehre und Songwriting (Leu-Verlag 1995) beschreiben melodisch Moll mit Auflösungen der VIII. und VI. Stufe abwärts. Der Text kommentiert eine Grafik, Zitat:
"Die Erhöhung der 6. und 7. Stufe wurde allerdings nur in der Aufwärtsbewegung gemacht. Bei der Abwärtsbewergung werden diese Töne wieder aufgelöst. In der heutigen populären Musik wird diese Regel allerdigns nicht mehr beachtet."
Graf/Nettles, Die Akkord-Skalen-Theorie (Advance Music 1997, S. 85f) liest sich recht erhellend. Zunächst ist bei Einführung in Moll die Rede von "verschiedenen Ausformungen" durch Unterschiede im zweiten Tetrachord, die anschließend erläutert werden, Zitat:
"Die klassische Harmonielehre zieht nur drei Moll-Tonarten in Betracht: Natürlich, harmonisch und melodisch Moll. Die Tonleiter dorisch Moll darf aber nicht unberücksichtigt bleiben, da sie eine wichtige Quelle für Ausweichungen und Modulationen ist.
Bezüglich der traditionellen Behandlung des melodisch Moll muss gesagt werden: Es gibt nur eine Richtlinie und kein Gesetz, dass große Sext und große Sept hintereinander nur in aufsteigenden und kleine Sext, kleine Sept nur in absteigenden Linien (melodisch Moll) auftreten. Im zeitgemäßen Gebrauch gibt es eine große Sext und Sept auf-
und absteigend. Diese Erscheinung kann bereits in früher Musik nachgewiesen werden."
Als Beispiele für den letzten Abschnitt dienen Stellen aus dem Wohltemperierten Klavier I, Fuge in a Moll und Fuge in f-Moll.
Mulholland/Hojnacki, The Berklee Book of Jazz Harmony (Berklee Press 2013, S.83ff) stellt folgende Molltonleitern (minor scales) vor: natürlich Moll, harmonisch Moll, melodisch Moll, dorisch Moll, phrygisch Moll.
Es wird darauf verwiesen, dass Stücke aus dem Jazz in Moll selten nur eine der Skalen benutzen. Dem Titel des Lehrbuchs entsprechend werden vor allem die harmonischen Bezüge und Funktionen (tonikal, subdominant. dominant) der sich aus diesen "Molltonleitern" ergebenden Akkorde untersucht, vermutlich aus Gründen des Copyright allerdings nur mit 2 Kompoitionen der Autoren am Kapitelende und ansonsten nur mit recht allgemeinen Verweisen auf bekanntere Titel aus dem Jazzrepertoire.
Mathias Löffler, Rock & Jazz Harmony (AMA Verlag 2018, S. 101) verweist nach der Einführung in "Die Welt in Moll" darauf, dass natürlich Moll die "grundlegende Bezugsskala" ist und neben Kompositionen in ausschließlich natürlich Moll auch der Wechsel mit harmonisch Moll häufig, das Auftreten im Verbund mit melodisch Moll oder aller drei Molltonleitern in einem Stück dagegen seltener ist. Eine Zitatstelle zur Auflösung der Erhöhungen bei Abwärtsführung der Melodie in melodisch Moll konnte ich nicht finden.
Frank Sikora, Die Neue Jazz Harmonielehre (Schott Music 2003, S. 53) gibt keine Hinweise zur musiktheoretischen Einbettung und führt MM sowie HM nach Vorstellung der Dur-Modi ein als "zwei weitere Tonleitertypen".
Dariusz Terefenko, Jazz Theory (Rutledge 2014, S. 7) schreibt: "In addition to the so-called "natural" [Fettdruck im Original] minor, there are two additional "shades" of minor: harmonic and melodic [jeweils Fettdruck im Original]. Die Grafik zeigt eine Auflösung der Erhöhungen bei melodisch Moll abwärts geführt an.
Gruß Claus