DerZauberer
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DIE 12 BLUES IRRTÜMER
nach Meinung von @DerZauberer
VORWORT
Meine ungewöhnlich rege Forums-Beteiligung derzeit kommt durch eine etwas ruhige Phase im Job. Das wird sicher bald wieder anders. Aber ich nutze die Zeit aus, um ein Paar Sachen, die über die letzte Zeit im Kopf "gereift" sind, mal aufzuschreiben. Ich mache das gern in längeren Artikeln, weil mir das hilft, Themen in eine gewisse Struktur zu bingen und weil ich Spaß dran habe. Diesen Spaß habe ich, weil es in diesem Forum tolle User gibt und sich sehr spannende Diskussionen entwickeln können.
Ich bin ja einer der recht sparsam vertretenen (und "bekennenden") Blues-Fans hier im Forum, und ab und an kommt es in Diskussionen zu leichten Spannungen, wenn User wie ich auf User treffen, für die "Blues" irgendwo bei Joe Bonamassa beginnt und bei den Black Keys aufhört (okay, der Vergleich ist nicht ganz fair, nicht jeder muss sich mit der Geschichte und Entwicklung von Musik auseinandersetzen - aber es ist eben nicht alles Blues, was irgendwie ein bisschen bluesig klingt).
In meinen 40 Lebensjahren, von denen ich mich deutlich über 20 für Blues interessiere, habe ich viel Wissen im Kopf sowie in meiner Musiksammlung sowie in Büchern gesammelt. Das hat schon eine Weile gedauert und ich erwarte nicht, dass jeder "Neuling" in Sachen Blues auch ein so starkes Interesse hat wie ich. Nicht jeder muss sich wie ein Schnitzel über eine nach 85 Jahren aufgetauchte und zuvor verschollen geglaubte Aufnahme freuen, nicht jeder muss auf schlechten Paramount-Aufnahmen durch Rauschen und Knacken und Verzerrung mit viel Liebe das versteckte musikalische Juwel finden und davon begeistert sein.
Ich sage auch nicht, dass früher alles besser war. Ich gebe zu, dass mich der alte und "traditionelle" Blues mehr berührt als die aktuellen Spielarten, aber ich lasse gerne jedem Menschen seinen Musikgeschmack. Trotzdem ärgert mich manchmal das Nichtwissen, wenn es sich in vorgefertigten Meinungen und Aussagen wie "Blues ist so und so" oder "Bluesrock ist doch auch Blues" äußert. Ab und an versuche ich in entsprechenden Threads ein wenig gegenzusteuern, wurde deswegen aber auch schon mal als "Bluespolizei" gelabelt.
Anstatt nun aber einen Grundsatzartikel zum Thema "Was ist Blues" zu verfassen - der ein ganzes Buch werden müsste - wähle ich hier den Weg, mit einigen der sich hartnäckig haltenden Fehleinschätzungen und Irrtümern aus meiner Sicht ein wenig aufzuräumen. Dies wird - wie immer bei mir - keine wissenschaftliche Abhandlung, eher das Runterschreiben der Dinge, die ich im Kopf habe. Es geht also um (meine) Erfahrung als um eine (allgemeingültige) allerletzte Wahrheit.
Ich verweise hier im Artikel auf wenige Song-Beispiele, um den einen oder anderen Punkt zu untermauern. Es gibt nicht viele, viele mehr… und natürlich auch genug Gegenbeispiele. Ein zweiter Artikel mit (aktuell funktionierenden) YouTube-Links zu einigen der Beispiele wird hier im Thread folgen, ich wollte nur den reinen Text nicht mit Video-Links (die dann vielleicht irgendwann nicht mehr funktionieren) zerhacken. Und: Ich bin mir nicht sicher, ob ich auch Videos zeige, die dann auch wirklich in Deutschland sichtbar sind (ich sitze ja in den USA derzeit und habe kein GEMA/YouTube Problem). Und JA, als Gitarrist zieht es mich zu Gitarren-Beispielen. Sorry an die Pianisten, Harp-Spieler und Dudelsack-Blueser.
1. BLUES IST "SO" UND "SO"
Das, was wir derzeit so an Blues hören, folgt in der Tat sehr oft dem allgemein bekannten Blues-Schema was Rhythmus, Akkorde, Takt, Strophen angeht. Das war aber bei weitem nicht immer so, und vor allem muss das auch nicht so sein. Blues kann auch total anders sein! Blues ist vielfältiger, als man bei oberflächlicher Betrachtung so denken mag. Wenn man sich ein wenig drauf einlässt.
Andererseits - auch das sei an dieser Stelle gesagt - gibt es auch nicht feststehende Kriterien, die einen Blues zum Blues machen. Es gibt Interpretationsspielraum, man muss das Gesamtbild sehen, um eine Kategorisierung zu "Blues" oder "kein Blues" vorzunehmen. Und ja, es gibt auch unterschiedliche Meinungen, wo Blues beginnt oder endet.
Es ist eher ein Indizienprozess als eine eindeutige Beweislage mit Geständnis. Neben dem Song an sich spielen oft auch dessen historische Einordnung in den Gesamt-Kontext oder die Geschichte des Interpreten eine Rolle. Auch in neuerer Pop/Rock-Musik gilt das: Frühe Alben von Genesis oder auch Pink Floyd werden gerne als "Progressive Rock" kategorisiert. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung mag das ja auch richtig gewesen sein, aber 50 Jahre danach kann das doch nicht mehr progressiv sein? Oder auch Bob Dylan, wo man in den MP3 Tags immer wieder mal "Folk Rock" liest, auch wenn der Gute auf dem Song einen 1a Country-Song oder ein Weihnachtslied niederlegt. Der Zusammenhang macht’s, nicht eine klare Genre-Schublade.
Vieles kann Blues sein - nicht alles, was bluesig klingt, ist Blues. Wenn also jemand sagt "Lied XYZ ist kein Blues", dann sollte dies auch begründbar sein. Wenn Songs, die von der Struktur/Melodie/etc. absolut nicht nach Blues klingen, trotzdem als solcher bezeichnet werden, gilt dasselbe. In die Genre-Bezeichnung "Blues" passt viel hinein - aber eben nicht alles.
2. BLUES-AKKORDE: I, IV, V / FÜR DIE PROFIS MIT 7 ODER MAL IN MOLL
Weiß doch jeder - Blues hat im Prinzip drei Akkorde und das macht es ja so schön einfach. Nunja. Das ist eher der Beginn der Landkarte. Es gibt sehr viele "one-chord-songs", also Songs ohne jeglichen "richtigen" Akkordwechsel. Vieles aus dem Mississippi Hill Country Blues passt da rein, aber auch die etwas repetitiveren Werke von Delta Blues Künstlern oder dem davon beeinflussten Chicago Blues. Bei einigen dieser Songs ist ein Akkordwechsel durch die Melodie impliziert, aber der eigentliche begleitende Akkord bleibt derselbe.
Dann gibt es - gerade später - auch viele erweiterte Formen, mit deutlicherem Spiel Dur/Moll und Abwandlungen der Chord Changes. Prominentes Beispiel ist "Stormy Monday": Das Original von T-Bone Walker ist ein 12-Bar-Blues im I/IV/V-Schema, die Version von Bobby Blue Bland von 1961 sieht da schon ganz anders aus:
Gerade die Moll-Substitutionen in Takten 7-10, verbunden mit dem schon im Original vorhandenen Fokus auf der 9 (die Akkorde starten dann gern auch mit der 13 dabei), machen aus diesem Song schon ein ganz anderes "Tier" - nach wie vor Blues, aber eben schon ein Eckchen weg von I/IV/V.
Kurzum: Ja, viele Blues-Songs kommen mit den drei klassischen Akkorden aus. Einige haben aber auch ganz andere Strukturen.
Beispiele:
3. BLUES IST ROH UND UNGESCHLIFFEN
Wir verbinden mit dem Blues-Sound gerne mit dem Plantagenarbeiter, Tagelöhner oder Hobo, der auf einer abgeranzten und semi-gestimmten Gitarre mit schwieligen Fingern und whiskeyschwangerer Stimme uriges Feeling vermittelt. Klar, sowas gab es auch. Gerade im Rahmen des "Blues Revival" der 1960er Jahre wurden einige Künstler "entdeckt", die Musik eher nebenher betrieben haben. Auch die Reisen von Vater und Sohn Lomax hatten das Ziel, im weitesten Sinne "Folk Music" zu dokumentieren, also Musik, die vom (einfachen) Volk gespielt wurde. Es gibt ihn also, diesen rohen und ungeschliffenen Blues!
Die Blues-Aufnahmen der 1920er/30er Jahre sowie auch die meisten Aufnahmen ab den 1940ern und danach hatten aber eine wirtschaftliche Absicht - man wollte mit dem Verkauf Geld verdienen. Blues war Pop-Musik in einer gewissen Zielgruppe, da war Profit zu holen. Wir vergessen auch gerne, dass Blueser für Feste als Begleit-Bands angeheuert wurden - und wie bei Stadtfest-Coverbands heute wurde erwartet, dass die Jungs auch die angesagten Kracher drauf hatten. Muddy Waters hatte ein breites Repertoire mit vielen Pop-Covers (damals so Songs wie "Chatanooga Choo-Choo", "Deep in the Heart of Texas", "Dinah"), bekannt wurde er erst später mit Chicago Blues und eigenen Songs.
Viele alte Blueser waren Profis - sie haben in ihrer aktiven Zeit von der Musik gelebt. Als Beispiel ziehe ich Tampa Red heran, der mit weit über 300 Aufnahmen von 1928 bis 1942 (und weiteren Aufnahmen/Alben danach bis 1960) sehr prominent vertreten war und gut davon leben konnte. Zudem ist er auf vielen Werken als Session-Gitarrist dabei. Bekannt wurde als Slide-Gitarrist, aber als ein sehr feiner und kein "roher". Oder auch Peetie Wheatstraw - viele Songs, viele sehr gleich und daher ein bisschen langweilig auf die Dauer, aber ein sehr erfolgreicher Künstler.
Wir vergessen auch gerne, dass einige der erfolgreichsten Interpreten im Blues Frauen waren - Ma Rainey, Mamie Smith, oder Bessie Smith (nicht verwandt) beispielsweise. Mamie Smith hatte im Jahr 1920 (!!!) mit ihrem Song "Crazy Blues" einen echten Million-Seller, auf einmal wurden "Race Records" (also Scheiben schwarzer Künstler für ein schwarzes Publikum) interessant. Dummerweise kam dann der wirtschaftliche Zusammebruch, die Great Depression, und damit ging es auch mit dem Verkauf bergab. Und dann kam der 2. Weltkrieg - deshalb gibt es auch fast keine Blues-Aufnahmen ab Mitte der 1930er bis Kriegsende.
Wenn man sich mit den alten Aufnahmen intensiver auseinandersetzt, dann stellt man schnell fest, dass damals andere Dinge populär waren, als wir heute toll finden. Robert Johnson, die absolute Delta-Blues-Legende, hat nur 29 Songs aufgenommen und ein paar Tausend Platten verkauft. Ma Rainey - 94 Songs. Sylvester Weaver - 50+ Songs. Blind Lemon Jefferson - 79 Songs. Charley Patton (die eigentliche Delta-Legende…) - knapp 60 Songs. Und so weiter. Dass der Einfluss von Johnson heute alle anderen klein aussehen lässt, liegt daran, dass er in den 1960ern Musiker wie Keith Richards oder Eric Clapton beeinflusst hat.
Und weil diese urigen schwarzen Künstler bis heute ein sehr breites - und auch finanzstarkes weißes (!) - Publikum begeistern, werden hohe Preise für die ganz wenigen Original-Scheiben erzielt und es gibt große Begeisterung bei der Wiederentdeckung lange verschollen geglaubter Aufnahmen. Kurios ist einfach, dass viele Hits von damals heute quasi nicht viel wert sind (eine gut erhaltene "Crazy Blues" Schellack-Platte geht so um $150 weg), aber die damaligen Flops heute eben zum Teil Kultstatus haben ($37,100 war der Top-Preis für eine Scheibe von Tommy Johnson, von der nur ein Examplar weltweit bekannt ist). Historisch gesehen war der "rohe" Blues aber eben eine Spielart von ganz vielen - und rein kommerziell mit weitem Abstand nicht die erfolgreichste.
Und auch im Blues gab es Musiker, die eine richtig fundierte Ausbildung hatten und diese auch genutzt haben. Lonnie Johnson, einer der ersten Gitarrenhelden, ist ein tolles Beispiel. Blues Artist wurde er, weil er einen Blues-Wettbewerb und damit Plattenaufnahmen gewonnen hatte - aber sein Spiel ist gerade im Kontext der damaligen Zeit wirklich phantastisch gut und variantenreich. Im Gegensatz zum Abziehbild des Blues-Musikers vom Lande kam Lonnie aus New Orleans, hat in einer Musikerfamilie als Kind bereits Klavier, Violine, Mandoline und eben auch Gitarre gelernt. Man kann behaupten, dass er das Single-String-Gitarrensolo erfunden hat und es ist ziemlich sicher, dass er als erster eine E-Geige gespielt hat. Genre-technisch bewegt er sich durch Blues, Jazz, Rhythm&Blues, und dies sehr flüssig und wirklich vom Feinsten. Eine echte Entdeckung für jeden Gitarristen, wenn man da mal tiefer reinschaut und die Ohren aufsperrt.
Ganz spannend wird es auch beim Chicago Blues - Howlin' Wolf und Muddy Waters hatten streckenweise eine echter All Star Band, wo jedes Mitglied auch als Solo Artist Erfolg haben konnte und zum Teil auch hatte. Die Arrangements sind wirklich ausgefeilt, der Sound wirklich vielschichtig - wenn man bedenkt, dass viele Aufnahmen in Mono und ohne Mehrspurverfahren live eingespielt wurden, umso erstaunlicher.
Beispiele:
4. BLUES FOLGT DER AAB-FORM: CALL x 2, RESPONSE
Wer kennt diese Situation nicht?
So oder so ähnlich klingt ja wie wir alle wissen der "klassische" Blues. Eigentlich nur zwei Zeilen, die sich am Ende reimen, die erste wird wiederholt, dauert dann magischerweise genau 12 Takte. Nun gut, viele Blues-Songs passen tatsächlich in dieses Schema, es gibt genug Aufnahmen, die dies belegen.
Ätsch, es geht aber auch ganz anders!
Es gab schon immer Blues-Songs, die sich in total anderem Vers-Schema bewegen. Es gibt eindeutige Blues-Stücke, die nicht diesem Schema folgen. Ein Blues "darf" auch eine ganz andere Form haben. Beispiele dafür sind wirklich explizit komponierte Stücke (z.B. viel Chicago Blues aus der Feder von Wille Dixon), Songs mit einer gewissen "Tradition" in anderen Songs/Genres (z.B. Folk), oder einfach nur Songs von einfallsreichen Interpreten.
Die Form folgt dem Song - bei allem Formalismus wird oft vergessen, dass es beim auch Blues um Text und Melodie geht. Viele reden von den Gitarristen, ohne sich mal den Text anzuhören oder verstehen zu wollen. Blues-Songs sind Pop-Songs der damaligen Zeit, mit Text/Melodie/Arrangement wie Pop-Songs heute.
Beispiele:
5. BLUES HAT 12 TAKTE IM 4/4-Takt
Es ist richtig, dass sich das 12-Takte-Blues-Schema als ein gewisser Standard und "gemeinsame Sprache" etabliert hat. Ebenso ist richtig, dass es viele Blues-Songs in eben diesem 12-Takte-Schema gibt. Ich will hier aber betonen, dass es eben auch Blues in mit deutlich mehr (und auch mit deutlich weniger) Takten gibt. Es gibt sogar Blues ohne klare Form. Es gibt große Meister, die munter mal einen Schlag mehr einbauen oder auch mal einen weglassen, so dass man nicht von einem eindeutigen 4/4-Takt sprechen kann. Es gibt Blues mit 8 und 16 Takten, oder auch mal 10. Ein Song muss nicht 12 Takte haben, um Blues zu sein.
Gerade die Einzelkünstler, also der sich selbst begleitende Blues-Sänger, hatten ja alle Freiheiten und konnten machen, was sie wollten. Wenn man sich mal die Transkriptionen alter Delta Blues Stücke anschaut, findet man alle Arten von Taktwechseln, obwohl der "Beat" einfach so durchgeht. Aus einem Blues wird also kein Walzer, nur weil mal von 4/4 auf 3/4 gewechselt wird, und auch die 5/4 merkt man nur beim Nachzählen. Sie sind aber da.
Diese Freiheit hat es dann auch schwer gemacht, sowas in einem erweiterten Ensemble zu spielen. Es gibt einige Aufnahmen von John Lee Hooker oder auch Lightnin‘ Hopkins, wo die Backing Band einfach total nicht mitkommt - die Herren wechseln nämlich aus ihrer Gewohnheit als Solo-Artist die Akkorde und Form wie es ihnen passt, nicht wie es laut Schema sein "muss". Die Entwicklung hin zu einem formalisierteren Ansatz wurde also immer dort wichtig, wo der Blues sich vom alten "blues singer with guitar" zur lauteren, elektrischen Musik in den Städten (allen voran Chicago) oder in Richtung Jazz mit Ensemble entwickelt hat.
Klar ist es toll, wenn man mit wildfremden Musikern in der Blues-Standard-Form einfach mal losjammen kann. Aber jeder, der dabei war, wird irgendwann erfahren haben: Nun reicht’s aber auch, es wird etwas fad. Genau deswegen sind einige der bekannteren "Klassiker" eben auch Songs, die vom Standard-Schema abweichen. Es wird gerne ignoriert, dass man sich in viele Blues-Songs genau so reinarbeiten muss wie in heutige Pop&Rock-Songs.
Beispiele:
6. BLUES IST AUS DEM JAZZ ENTSTANDEN
Immer wieder - besonders in Deutschland - gern genommenes Statement: Jazz war früher da (hat also mehr "Tradition"), Blues hat sich auf dem Land als vereinfachte Form des Jazz entwickelt.
Das ist so nicht korrekt: Blues und Jazz haben parallel existiert (das kann man anhand der existierenden ganz alten Aufnahmen sehen und hören, auch Texte belegen dies), wobei Blues eher ländlicher und Jazz eher urbaner war. Die Grenzen zwischen beiden Genres ist fließend, es gibt viele Songs mit "Blues" im Namen (und auch der Form) im Jazz. Ragtime kann bluesig oder jazzig sein, und von einem eindeutig zweideutigen "Hokum Song" ist es zum klassischen Blues ebenso weit wie zum Jazz.
Die gegenseitige "Befruchtung" ist im Einzelnen aber nicht eindeutig nachzuvollziehen. Man muss bedenken, dass ein nationales Massenmedium damals fehlte: Radio fand Verbreitung erst in den 1920er Jahren und war eher ein lokales Medium (allein Mississippi hat ein Drittel der Fläche der heutigen BRD, Reichweite der Sender war begrenzt), Fernsehen und Internet gab es noch nicht, Platten hatte nicht jeder. Die Landschaft war also fragmentierter. Andererseits darf man aber nicht vergessen, dass es viel mehr lokale Zugverbindungen gab als heute, auch als einfacher Musiker konnte man also gut herumkommen. Und: Musiker waren schon immer überdurchschnittlich viel unterwegs und mobil, wodurch sie sehr viele Einflüsse mitbekommen haben und aufnehmen konnten.
Lassen wir es also dabei: Blues und Jazz haben freundschaftlich koexistiert und sich gegenseitig beeinflusst. Wer zuerst da war, ist mangels definitiver Quellen nicht nachvollziehbar.
Beispiele habe ich weiter oben bereits genannt - die frühen Aufnahmen mit eher jazz-artiger Begleitung, Interpreten wie Lonnie Johnson, und so weiter… und klar, auch die vielen Blues-Progressions in Jazz-Standards.
7. JAZZ IST DIE WEITERENTWICKLUNG DES BLUES
Noch lieber gemachte Aussage als die vorige (gerade von der deutschen Jazz-Polizei: Blues als simple Form ist letztlich im Jazz aufgegangen und wurde dort (zu was Besserem) weiterentwickelt.
Stimmt so leider auch nicht.
Anerkennen muss man, dass im Jazz die Weiterentwicklung deutlich dynamischer war als im Blues. Wer will, kann im Blues zwar zwischen Stilen wie Delta, Piedmont, West Coast, Chicago, Jump Blues, Hokum, etc. unterscheiden - aber oft klappt das nur sehr bedingt (nicht jeder Song aus dem Mississippi Delta ist auch Delta Blues, da geht’s schon los). Zudem sind die Unterschiede deutlich kleiner und weniger revolutionär als im Jazz. Was dort mit Bebop, Free Jazz, etc. passiert ist, sind ganz andere Nummern als die Weiterentwicklung innerhalb des Blues-Genres.
Auch muss man an dieser Stelle sagen, dass sich Jazz bis heute viel mehr weiterentwickelt hat. Der Weg von Jazz/Swing als Tanzmusik hin zur "musician’s music" für gebildete Musiker und ebensolches Publikum macht Jazz bis heute spannend, immer wieder gibt es Neues. Blues ist im Gegensatz dazu bis heute "Popmusik" geblieben - aber die Popmusik von heute ist nicht mehr die Popmusik der 1930er-1960er Jahre, Blues kann also durchaus als etwas angestaubt bezeichnet werden. Blues hat heute wahrscheinlich eine deutlich kleinere Fan-Gemeinde als Jazz. Es gibt sogar Menschen wie mich, die Blues als "tote" Musikform bezeichnen: Die Aufnahmen sind gemacht, sie werden immer wieder neu interpretiert, aber es fehlt die soziokulturelle Relevanz und somit auch ein Anreiz zur Weiterentwicklung.
So findet man also Blues als Unterkategorie von Jazz Festivals, viele moderne Blueser bringen Jazz-Elemente und -Akkorde im Blues unter, viele Jazzer spielen umgekehrt auch Blues-Songs. Ist doch alles gut so! Erkennen wir an: Jazz ist musikalisch interessanter und herausfordernder. Was einen selbst mehr berührt, kann man nur selbst herausfinden. Man muss sich nicht dafür schämen, Fan von kratzigen Aufnahmen ungelernter Gitarristen/Sängern zu sein - man sollte sich aber bewusst sein, dass man Teil einer recht kleinen Gruppe ist.
8. BLUES IST TRAURIG
"The Blues as what consists between male and female in love" hat Son House gesagt. Es gibt viele Blues-Definitionen, Zitate, und so weiter. Und JA, dieses Thema von "having the blue devils" und "feeling blue" hat eindeutig was mit einer irgendwie depressiven Stimmung zu tun. Es gibt also dieses traurige Element durchaus. Zudem handelten die Texte auch oft vom harten Alltag der Menschen, auch nicht immer so rosige Ausgangslage.
Aber: Blues war eben oft auch das genaue Gegenteil. Der Spaß in schwierigen Zeiten, das Dem-Teufel-ins-Gesicht-Lachen, der etwas seichtere Song zu Liebe und/oder Sex, oder eine in Musik verpackte aktuelle Geschichte oder Begebenheit. Blues kann all das sein und muss nicht nur traurig sein. B.B. King (als prominentes Beispiel) und andere große Blueser hat man oft lachen gesehen!
Gemein ist vielen Aussagen von Bluesern aber, dass es um "echtes" Feeling geht, um in Musik gefasste Gefühle. Ich wiederhole mich, aber ich finde es auch wichtig: Es geht nicht um Form, Harmonien und Riffs, sondern eben auch um Melodie und Text.
Zwei Zitate will ich hier mal wiedergeben:
Es geht also um starke Emotionen, aber nicht nur um negative... Hauptsache echt!
Beispiele:
9. BLUES KOMMT AUS AFRIKA
Blues ist in "African-American communities" entstanden. Gemeint sind damit die zum hohen Anteil von Schwarzen bewohnen Gebiete im tiefen Süden der USA. Das, was wir als Blues bezeichnen, ist wohl Ende des 19. Jahrhunderts entstanden - natürlich auch aus afrikanischer Musik (oder dem, was nach Generationen Sklaventum davon übrig geblieben war), aber zudem mit starken Einflüssen europäischer Musik (auch hier waren die USA ja ein Schmelztiegel vieler Stile, von Irish Folk über Volkslieder aus Frankreich und und und) sowie Kirchenliedern, Balladen, Work Songs / Field Hollers, und so weiter. Blues kann sich also nicht über einen Mangel an Einflüssen beklagen - ist aber letztlich eine in den USA entstandene Musikform.
Mann kann darüber streiten, wie "afrikanisch" Blues ist. Es gibt Musiker und auch Gelehrte, im Blues sehr starke afrikanische Wurzeln sehen, andere bezeichnen Blues als ur-amerikanische (nicht afrikanische) Musikform. Unbestritten ist, dass viele "klassische" Blues Elemente, wie beispielsweise Blue Notes, Rhythmik, an Pentatonik orientierte Melodien, auch in Afrika auftauchen. Es gibt Gegenden in Afrika, da klingt die "traditionelle" Musik fast wie Blues - aber wie beim Blues gibt es wenige bis keine Dokumente, wie diese Musik entstanden ist und seit wann es sie gibt und was hier wiederum die beeinflussenden Elemente waren.
Weder in Afrika noch in den USA sind die Anfänge des Blues also gut dokumentiert. Aufgeschrieben wurde wenig, Noten kannte kaum ein Musiker, Aufnahmen gab es schlichtweg nicht, und interessiert hat es damals auch niemanden. Es gibt also kaum Dokumente! Da hat die europäische Musik deutliche Vorteile, dank Notenschrift ist einfach viel mehr nachvollziehbar.
Wie dem auch sei: Verabschieden sollten wir uns davon, dass ein armer Schwarzer gestern in irgendeiner Wüste in Mali auf einer Gitarre den Blues gezupft hat, dann *zack* als Sklave nach Mississippi verschleppt wurde und dann im Südstaaten Slang "I be's troubled" gesungen hat. Wir reden hier über eine lange Zeit, viele Einflüsse und Zusammenhänge. Es gab schon Blues, bevor er als solcher bezeichnet wurde - aber wann das genau war, kann man wirklich nicht mit Gewissheit sagen.
Unumstritten ist aber, dass "klassische" Blues-Instrumente wie Banjo (später wurde dann die Gitarre populärer), Mundharmonika oder auch das Klavier nicht aus Afrika stammen. Das Banjo hat afrikanische Wurzeln, ist aber im Süden der USA entstanden. Andere Instrumente wurden, einfach weil sie eben da waren, für alle Arten von Musik genutzt.
Man kann Blues und Afrika schon sehr nah zusammenbringen und es funktioniert sehr gut. Aber dasselbe ist es nicht.
Beispiele
10. BLUE NOTES SIND KLEINE TERZ, KLEINE SEPTIME UND VIELLEICHT VERMINDERTE QUINTE (TRITONUS)
Die in der heutigen (westlichen) Musik verwendete Tonleiter mit ihren 12 Halbtonschritten und gleichstufiger Stimmung gibt ein Schema vor, wie Noten "zu klingen haben". Jedem sollte aber klar sein, dass es zwischen zwei definierten Noten beliebig viele Zwischentöne gibt - mann kann sie singen, aber auf einem Tasteninstrument oder einem bundierten Saiteninstrument nicht ohne Tricks spielen.
Das stellt uns dann auch bei den "richtigen" Blue Notes vor Probleme - die kommen aus einem anderen Tonsystem. Eigentlich es sind die Töne zwischen kleiner und großer Terz, in der Nähe der Septime (z.B. Naturseptime), und zwischen verminderter und reiner Quinte. Einfacher gesagt (ich bin ja nun auch beileibe kein versierter Musiktheoretiker): Es geht nicht um Halbtonschritte, sondern um die Achtel/Viertel/irgendwas dazwischen.
Das erklärt ein bisschen, warum eine Moll-Pentatonik so super zu einem Blues in Dur7 passt: Blue Notes, gerade die b3, sind halt irgendwo "zwischen" Dur und Moll, dieser Konflikt kommt bei diesem Zusammenspiel gut durch.
Blue Notes sind also etwas Persönliches, man kann sie nicht exakt definieren, nicht exakt in Notenschrift aufschreiben. Daher klingen nach Noten gespielte Vocal-Melodien von Blues-Songs (oder auch Soul, R&B), wenn man die originale Aufnahme im Kopf hat, oft "irgendwie falsch". Die eigenen Blue Notes muss man selbst finden und spielen - hier geht im Zusammenspiel einer Band mit Instrumenten naturgegeben viel verloren. Gerade deshalb komme ich ja immer wieder auf die gesungenen Vocals (kein Bundstab im Menschen!) zu sprechen, und auch deshalb funktionieren Techniken wie Bottleneck/Slide so super, und auch deshalb arbeiten die Blues-Gitarristen mit Bends und Vibrato. Es geht um die feinen Noten, die wir vielleicht gar nicht aktiv hören… aber doch irgendwie spüren und fühlen.
Ach ja - es gibt die Blue Notes nicht nur im Blues. Auch Irish Folk kennt sowas (hat einen anderen Namen, aber geht um dasselbe), und natürlich gibt es viele viele andere Musikstile, wo man mit diesen Tönen arbeitet.
Beispiel:
11. BLUES BRAUCHT PENTATONIK
Es stimmt schon, dass Blues gut zur Pentatonik passt. Die "Blue Notes" findet man in einer pentatonischen Tonleiter aus Afrika - diese hat aber in unserem westlichen Tonsystem keinen Platz, sie passt da nicht wirklich hinein. Irgendwann hat sich im Gitarren-Bereich das Single-String-Solo entwickelt, da mussten Töne her. Irgendwann hat man gemerkt, dass die Moll-Pentatonik zum Dur(7)-Blues total super passt, und das sogar immer und durch den ganzen Song.
Angefangen hat das deutlich anders, nämlich als Gesangsmelodien, Field Hollers, Work Songs… irgendwann dann Blues mit Begleitung, als Band, wie auch immer. Die allerwenigsten Interpreten hatten eine Ahnung von formaler Musik und Harmonielehre, es wurden Melodien geschaffen, die klangen und in das passten, was damals "in" war. Im "klassischen" Blues spielen Noten aus der Vokal-Melodie und den zugrunde liegenden Akkorden eine viel erheblichere Rolle als die Pentatonik, und die wenigsten (halbwegs interessanten) Blues-Soli speisen sich rein aus der Pentatonik. Nicht mal die heute bekannte Blues-Scale reicht aus, wird sie doch gern durch Slides, Trilller, etc. um weitere Elemente erweitert.
Auch hier wieder - ja, es gibt den ganz ganz einfachen Blues, der aus ganz ganz wenigen Noten besteht, gerne auch nur 5. Es gibt aber auch deutlich elaboriertere Melodien - und vor allem gab es eine Zeit vor Gitarrensoli mit gezupften Einzelnoten. Von Robert Johnson gibt es exakt einen einzigen Vers Solo in einem Take von "Kind Hearted Woman". Es gibt sehr sehr viele alte (und ich definiere "alt" hier bis in die 1960er Jahre hinein) Blues-Songs ohne Solo. Vielleicht besser so manchmal, wenn man sich das ewige Rumgenudel anschaut, das es heute so gibt. Blues waren immer Songs, es gab Text und Botschaft und Story. Das Solo - besonders das auf Basis der heute so geliebten (Moll-)Pentatonik - kam danach und steht in der Bedeutung weit hinten. Der mehrfach erwähnte Lonnie Johnson wurde sehr konsequent als Sänger beworben, nicht als toller Gitarrist.
Also: Blues geht ohne Pentatonik. Wer Blues lernen will, sollte sich die Songs mit ihren Akkorden und Melodien anschauen (und einen Blick auf die Texte werfen) und dann spielen und hören und spielen. Unmotiviertes Penta-hoch-und-runter-dudeln ist kein Blues.
Beispiele:
12. BLUES IST KLAR ABGRENZBAR
Okay, der Punkt ist etwas geschummelt, denn er sagt dasselbe wie der erste. Naja, seht es wie einen klassischen 12-Bar-4/4-Blues-mit-I-IV-V-Schema - der endet auch nicht wirklich, sondern geht immer weiter, weil im 12. Takt auf dem doofen Septakkord nicht Schluss sein kann… bis man sich irgendwann dazu durchringen kann, auf einem I7-Finale zu enden. So auch im Artikel hier.
Ich habe in den einzelnen Punkten ein wenig dargelegt, aus was für einem Potpourri Blues entstanden ist, und in diese bunte Mischung hinein hat der Blues auch gewirkt. Es gibt bluesige Passagen in erzkonservativen Bluegrass-Songs. Es gibt triefende Slide-Soli in progressiven Rock-Songs. Alte Blueser der 1930er sind explizit erwähnte Vorbilder/Influences von Künstlern der 2010er (80 Jahre danach!), wie beispielsweise Jack White oder Dan Auerbach. Schon davor: "The Blues had a baby, and they named it Rock'n'Roll".
Als Beispiel ziehe ich hier das für mich bewegendste und mit weitem Abstand bluesigste Stück aller Zeiten heran, ein Meilenstein der Musik- und Gitarrengeschichte: "Dark Was The Night - Cold Was The Ground" von Blind Willie Johnson finde nicht nur ich toll, sondern ganz viele Menschen. Nun muss man aber wissen, dass eben jener Blind Willie kein Blueser war, sondern ein hochreligiöser "Guitar Evangelist", also ein Prediger mit Gitarre. Praktisch alle seine Lieder handeln vom Glauben und Gott, er wäre wahrscheinlich zutiefst beleidigt gewesen, wenn ihn jemand in eine Kategorie wie die "teuflischen" Blueser gesteckt hätte. Dennoch - obwohl der Inhalt tief religiös ist (es geht um die dunkle Nacht und kalten Boden, als Jesus am Kreuz starb), so kommen doch die Melodie, Interpretation und Feeling gleichermaßen aus Blues und Gospel und gehen für den unbedarften Hörer als Blues durch. Auch wenn’s (eigentlich, nach Bluespolizistenmeinung) keiner ist bzw. sein kann. Na gut, manche nennen das dan "Gospel Blues".
Beispiel:
NACHWORT
Es gibt also mindestens 12 gute Gründe, sich mal ein wenig mit dem Blues-Schema und dessen Sinnhaftigkeit auseinanderzusetzen. Viel mehr Gründe gibt es, mit der eigenen Band anstatt des namenlosen "Blues Jam in A" sich vielleicht mal ein konkretes Stück herauszusuchen und auf dieser Basis was Eigenes zu entwickeln. Noch mehr Grund hat man, mal ganz bewusst aus dem Blues-Schema auszubrechen und neue Wege zu suchen. Unendlich viele Gründe gibt es, mit offenen Ohren durch die Welt zu laufen und sich für Musik zu interessieren.
Wenn dieser Text den einen oder anderen User zum Nachdenken bringt oder bei ganz wenigen Usern das Interesse weckt, tiefer in die Materie einzusteigen, wäre ich schon sehr happy. Ich habe schon lange aufgegeben, irgendjemanden zum Blues-Fan zu machen - diese Reise muss man für sich selbst und aus eigener Motivation heraus starten. Wenn nicht - auch gut, mir hat es wie zu Beginn gesagt viel Freude bereitet, das hier aufzuschreiben.
Ich bin mir bewusst, dass die große Diskussion dieses Mal wahrscheinlich ausbleiben wird - dazu ist das Blues-Forum einfach zu wenig frequentiert und die Blues-Fans mit tiefergehendem Interesse hier im Forum eine zu kleine Gruppe.
Also ist dieser kleine Aufsatz eher ein "Labor of Love" - natürlich freue ich mich aber ausdrücklich über Kommentare, Feedback und Diskussionen...
nach Meinung von @DerZauberer
VORWORT
Meine ungewöhnlich rege Forums-Beteiligung derzeit kommt durch eine etwas ruhige Phase im Job. Das wird sicher bald wieder anders. Aber ich nutze die Zeit aus, um ein Paar Sachen, die über die letzte Zeit im Kopf "gereift" sind, mal aufzuschreiben. Ich mache das gern in längeren Artikeln, weil mir das hilft, Themen in eine gewisse Struktur zu bingen und weil ich Spaß dran habe. Diesen Spaß habe ich, weil es in diesem Forum tolle User gibt und sich sehr spannende Diskussionen entwickeln können.
Ich bin ja einer der recht sparsam vertretenen (und "bekennenden") Blues-Fans hier im Forum, und ab und an kommt es in Diskussionen zu leichten Spannungen, wenn User wie ich auf User treffen, für die "Blues" irgendwo bei Joe Bonamassa beginnt und bei den Black Keys aufhört (okay, der Vergleich ist nicht ganz fair, nicht jeder muss sich mit der Geschichte und Entwicklung von Musik auseinandersetzen - aber es ist eben nicht alles Blues, was irgendwie ein bisschen bluesig klingt).
In meinen 40 Lebensjahren, von denen ich mich deutlich über 20 für Blues interessiere, habe ich viel Wissen im Kopf sowie in meiner Musiksammlung sowie in Büchern gesammelt. Das hat schon eine Weile gedauert und ich erwarte nicht, dass jeder "Neuling" in Sachen Blues auch ein so starkes Interesse hat wie ich. Nicht jeder muss sich wie ein Schnitzel über eine nach 85 Jahren aufgetauchte und zuvor verschollen geglaubte Aufnahme freuen, nicht jeder muss auf schlechten Paramount-Aufnahmen durch Rauschen und Knacken und Verzerrung mit viel Liebe das versteckte musikalische Juwel finden und davon begeistert sein.
Ich sage auch nicht, dass früher alles besser war. Ich gebe zu, dass mich der alte und "traditionelle" Blues mehr berührt als die aktuellen Spielarten, aber ich lasse gerne jedem Menschen seinen Musikgeschmack. Trotzdem ärgert mich manchmal das Nichtwissen, wenn es sich in vorgefertigten Meinungen und Aussagen wie "Blues ist so und so" oder "Bluesrock ist doch auch Blues" äußert. Ab und an versuche ich in entsprechenden Threads ein wenig gegenzusteuern, wurde deswegen aber auch schon mal als "Bluespolizei" gelabelt.
Anstatt nun aber einen Grundsatzartikel zum Thema "Was ist Blues" zu verfassen - der ein ganzes Buch werden müsste - wähle ich hier den Weg, mit einigen der sich hartnäckig haltenden Fehleinschätzungen und Irrtümern aus meiner Sicht ein wenig aufzuräumen. Dies wird - wie immer bei mir - keine wissenschaftliche Abhandlung, eher das Runterschreiben der Dinge, die ich im Kopf habe. Es geht also um (meine) Erfahrung als um eine (allgemeingültige) allerletzte Wahrheit.
Ich verweise hier im Artikel auf wenige Song-Beispiele, um den einen oder anderen Punkt zu untermauern. Es gibt nicht viele, viele mehr… und natürlich auch genug Gegenbeispiele. Ein zweiter Artikel mit (aktuell funktionierenden) YouTube-Links zu einigen der Beispiele wird hier im Thread folgen, ich wollte nur den reinen Text nicht mit Video-Links (die dann vielleicht irgendwann nicht mehr funktionieren) zerhacken. Und: Ich bin mir nicht sicher, ob ich auch Videos zeige, die dann auch wirklich in Deutschland sichtbar sind (ich sitze ja in den USA derzeit und habe kein GEMA/YouTube Problem). Und JA, als Gitarrist zieht es mich zu Gitarren-Beispielen. Sorry an die Pianisten, Harp-Spieler und Dudelsack-Blueser.
1. BLUES IST "SO" UND "SO"
Das, was wir derzeit so an Blues hören, folgt in der Tat sehr oft dem allgemein bekannten Blues-Schema was Rhythmus, Akkorde, Takt, Strophen angeht. Das war aber bei weitem nicht immer so, und vor allem muss das auch nicht so sein. Blues kann auch total anders sein! Blues ist vielfältiger, als man bei oberflächlicher Betrachtung so denken mag. Wenn man sich ein wenig drauf einlässt.
Andererseits - auch das sei an dieser Stelle gesagt - gibt es auch nicht feststehende Kriterien, die einen Blues zum Blues machen. Es gibt Interpretationsspielraum, man muss das Gesamtbild sehen, um eine Kategorisierung zu "Blues" oder "kein Blues" vorzunehmen. Und ja, es gibt auch unterschiedliche Meinungen, wo Blues beginnt oder endet.
Es ist eher ein Indizienprozess als eine eindeutige Beweislage mit Geständnis. Neben dem Song an sich spielen oft auch dessen historische Einordnung in den Gesamt-Kontext oder die Geschichte des Interpreten eine Rolle. Auch in neuerer Pop/Rock-Musik gilt das: Frühe Alben von Genesis oder auch Pink Floyd werden gerne als "Progressive Rock" kategorisiert. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung mag das ja auch richtig gewesen sein, aber 50 Jahre danach kann das doch nicht mehr progressiv sein? Oder auch Bob Dylan, wo man in den MP3 Tags immer wieder mal "Folk Rock" liest, auch wenn der Gute auf dem Song einen 1a Country-Song oder ein Weihnachtslied niederlegt. Der Zusammenhang macht’s, nicht eine klare Genre-Schublade.
Vieles kann Blues sein - nicht alles, was bluesig klingt, ist Blues. Wenn also jemand sagt "Lied XYZ ist kein Blues", dann sollte dies auch begründbar sein. Wenn Songs, die von der Struktur/Melodie/etc. absolut nicht nach Blues klingen, trotzdem als solcher bezeichnet werden, gilt dasselbe. In die Genre-Bezeichnung "Blues" passt viel hinein - aber eben nicht alles.
2. BLUES-AKKORDE: I, IV, V / FÜR DIE PROFIS MIT 7 ODER MAL IN MOLL
Weiß doch jeder - Blues hat im Prinzip drei Akkorde und das macht es ja so schön einfach. Nunja. Das ist eher der Beginn der Landkarte. Es gibt sehr viele "one-chord-songs", also Songs ohne jeglichen "richtigen" Akkordwechsel. Vieles aus dem Mississippi Hill Country Blues passt da rein, aber auch die etwas repetitiveren Werke von Delta Blues Künstlern oder dem davon beeinflussten Chicago Blues. Bei einigen dieser Songs ist ein Akkordwechsel durch die Melodie impliziert, aber der eigentliche begleitende Akkord bleibt derselbe.
Dann gibt es - gerade später - auch viele erweiterte Formen, mit deutlicherem Spiel Dur/Moll und Abwandlungen der Chord Changes. Prominentes Beispiel ist "Stormy Monday": Das Original von T-Bone Walker ist ein 12-Bar-Blues im I/IV/V-Schema, die Version von Bobby Blue Bland von 1961 sieht da schon ganz anders aus:
Code:
I7 IV9 I7 I7 IV9 IV9 I7-ii7 iii7-♭iii7 ii7 V9 I7-IV9 I7-V9
Gerade die Moll-Substitutionen in Takten 7-10, verbunden mit dem schon im Original vorhandenen Fokus auf der 9 (die Akkorde starten dann gern auch mit der 13 dabei), machen aus diesem Song schon ein ganz anderes "Tier" - nach wie vor Blues, aber eben schon ein Eckchen weg von I/IV/V.
Kurzum: Ja, viele Blues-Songs kommen mit den drei klassischen Akkorden aus. Einige haben aber auch ganz andere Strukturen.
Beispiele:
- R.L. Burnside - Going Down South (von den Alben "First Recordings" oder "Acoustic Stories", aber auch spätere Aufnahmen mit E-Gitarre): Ein. Akkord. Immer. Wieder.
- Howlin' Wolf - Smokestack Lightning: E. Irgendwas zwischen Dur und Moll (dank Blue Notes).
- John Lee Hooker - Boogie Chillen': Diesem Stück fehlt es quasi an allem: Akkorde, Melodie, Struktur... trotzdem ein 1A Blues-Song.
- Stormy Monday - Bobby Blue Bland: Deutlich erweitertes Blues-Schema, siehe oben im Text.
3. BLUES IST ROH UND UNGESCHLIFFEN
Wir verbinden mit dem Blues-Sound gerne mit dem Plantagenarbeiter, Tagelöhner oder Hobo, der auf einer abgeranzten und semi-gestimmten Gitarre mit schwieligen Fingern und whiskeyschwangerer Stimme uriges Feeling vermittelt. Klar, sowas gab es auch. Gerade im Rahmen des "Blues Revival" der 1960er Jahre wurden einige Künstler "entdeckt", die Musik eher nebenher betrieben haben. Auch die Reisen von Vater und Sohn Lomax hatten das Ziel, im weitesten Sinne "Folk Music" zu dokumentieren, also Musik, die vom (einfachen) Volk gespielt wurde. Es gibt ihn also, diesen rohen und ungeschliffenen Blues!
Die Blues-Aufnahmen der 1920er/30er Jahre sowie auch die meisten Aufnahmen ab den 1940ern und danach hatten aber eine wirtschaftliche Absicht - man wollte mit dem Verkauf Geld verdienen. Blues war Pop-Musik in einer gewissen Zielgruppe, da war Profit zu holen. Wir vergessen auch gerne, dass Blueser für Feste als Begleit-Bands angeheuert wurden - und wie bei Stadtfest-Coverbands heute wurde erwartet, dass die Jungs auch die angesagten Kracher drauf hatten. Muddy Waters hatte ein breites Repertoire mit vielen Pop-Covers (damals so Songs wie "Chatanooga Choo-Choo", "Deep in the Heart of Texas", "Dinah"), bekannt wurde er erst später mit Chicago Blues und eigenen Songs.
Viele alte Blueser waren Profis - sie haben in ihrer aktiven Zeit von der Musik gelebt. Als Beispiel ziehe ich Tampa Red heran, der mit weit über 300 Aufnahmen von 1928 bis 1942 (und weiteren Aufnahmen/Alben danach bis 1960) sehr prominent vertreten war und gut davon leben konnte. Zudem ist er auf vielen Werken als Session-Gitarrist dabei. Bekannt wurde als Slide-Gitarrist, aber als ein sehr feiner und kein "roher". Oder auch Peetie Wheatstraw - viele Songs, viele sehr gleich und daher ein bisschen langweilig auf die Dauer, aber ein sehr erfolgreicher Künstler.
Wir vergessen auch gerne, dass einige der erfolgreichsten Interpreten im Blues Frauen waren - Ma Rainey, Mamie Smith, oder Bessie Smith (nicht verwandt) beispielsweise. Mamie Smith hatte im Jahr 1920 (!!!) mit ihrem Song "Crazy Blues" einen echten Million-Seller, auf einmal wurden "Race Records" (also Scheiben schwarzer Künstler für ein schwarzes Publikum) interessant. Dummerweise kam dann der wirtschaftliche Zusammebruch, die Great Depression, und damit ging es auch mit dem Verkauf bergab. Und dann kam der 2. Weltkrieg - deshalb gibt es auch fast keine Blues-Aufnahmen ab Mitte der 1930er bis Kriegsende.
Wenn man sich mit den alten Aufnahmen intensiver auseinandersetzt, dann stellt man schnell fest, dass damals andere Dinge populär waren, als wir heute toll finden. Robert Johnson, die absolute Delta-Blues-Legende, hat nur 29 Songs aufgenommen und ein paar Tausend Platten verkauft. Ma Rainey - 94 Songs. Sylvester Weaver - 50+ Songs. Blind Lemon Jefferson - 79 Songs. Charley Patton (die eigentliche Delta-Legende…) - knapp 60 Songs. Und so weiter. Dass der Einfluss von Johnson heute alle anderen klein aussehen lässt, liegt daran, dass er in den 1960ern Musiker wie Keith Richards oder Eric Clapton beeinflusst hat.
Und weil diese urigen schwarzen Künstler bis heute ein sehr breites - und auch finanzstarkes weißes (!) - Publikum begeistern, werden hohe Preise für die ganz wenigen Original-Scheiben erzielt und es gibt große Begeisterung bei der Wiederentdeckung lange verschollen geglaubter Aufnahmen. Kurios ist einfach, dass viele Hits von damals heute quasi nicht viel wert sind (eine gut erhaltene "Crazy Blues" Schellack-Platte geht so um $150 weg), aber die damaligen Flops heute eben zum Teil Kultstatus haben ($37,100 war der Top-Preis für eine Scheibe von Tommy Johnson, von der nur ein Examplar weltweit bekannt ist). Historisch gesehen war der "rohe" Blues aber eben eine Spielart von ganz vielen - und rein kommerziell mit weitem Abstand nicht die erfolgreichste.
Und auch im Blues gab es Musiker, die eine richtig fundierte Ausbildung hatten und diese auch genutzt haben. Lonnie Johnson, einer der ersten Gitarrenhelden, ist ein tolles Beispiel. Blues Artist wurde er, weil er einen Blues-Wettbewerb und damit Plattenaufnahmen gewonnen hatte - aber sein Spiel ist gerade im Kontext der damaligen Zeit wirklich phantastisch gut und variantenreich. Im Gegensatz zum Abziehbild des Blues-Musikers vom Lande kam Lonnie aus New Orleans, hat in einer Musikerfamilie als Kind bereits Klavier, Violine, Mandoline und eben auch Gitarre gelernt. Man kann behaupten, dass er das Single-String-Gitarrensolo erfunden hat und es ist ziemlich sicher, dass er als erster eine E-Geige gespielt hat. Genre-technisch bewegt er sich durch Blues, Jazz, Rhythm&Blues, und dies sehr flüssig und wirklich vom Feinsten. Eine echte Entdeckung für jeden Gitarristen, wenn man da mal tiefer reinschaut und die Ohren aufsperrt.
Ganz spannend wird es auch beim Chicago Blues - Howlin' Wolf und Muddy Waters hatten streckenweise eine echter All Star Band, wo jedes Mitglied auch als Solo Artist Erfolg haben konnte und zum Teil auch hatte. Die Arrangements sind wirklich ausgefeilt, der Sound wirklich vielschichtig - wenn man bedenkt, dass viele Aufnahmen in Mono und ohne Mehrspurverfahren live eingespielt wurden, umso erstaunlicher.
Beispiele:
- Lonnie Johnson - Playing With The Strings: Ein Instrumental aus dem Jahre 1928, bei dem mir jedes Mal die Kinnlade auf den Boden knallt. Es gibt von LJ sehr viel Material, auch neuere Sachen aus den 1960er Jahren mit Video dabei, aber diese Virtuosität der alten Aufnahmen hatte er da nicht mehr.
- Mamie Smith - Young Woman’s Blues: Inwieweit der "Crazy Blues", ihr Riesenhit, nun ein echter Blues ist oder nicht, kann man diskutieren. Hier haben wir aber Blues, eindeutig. Aber achtet mal auf die Begleitung im Hintergrund.
- Charley Patton - Spoonful Blues: Es geht im Text um den Löffel Koks, den man damals ja einfach in der Apotheke kaufen konnte. Und als Beispiel zum Thema dieses Abschnitts darum, dass dieser rohe Vater des Delta Blues zwar eine einzigartig rauhe Stimme hatte, aber eben auch etwas feinere Songs und sehr feines Gitarrenspiel im Programm.
- Howlin' Wolf / Muddy Waters: So ziemlich alle der klassischen Chess-Aufnahmen. Phantastische Blues-Bands.
4. BLUES FOLGT DER AAB-FORM: CALL x 2, RESPONSE
Wer kennt diese Situation nicht?
I woke up this morning, my BMW wouldn't start
Yes, I woke up this morning, my BMW wouldn't start
Even if you're a rich kid, whooo Lord, times can be so hard
Yes, I woke up this morning, my BMW wouldn't start
Even if you're a rich kid, whooo Lord, times can be so hard
So oder so ähnlich klingt ja wie wir alle wissen der "klassische" Blues. Eigentlich nur zwei Zeilen, die sich am Ende reimen, die erste wird wiederholt, dauert dann magischerweise genau 12 Takte. Nun gut, viele Blues-Songs passen tatsächlich in dieses Schema, es gibt genug Aufnahmen, die dies belegen.
Ätsch, es geht aber auch ganz anders!
Es gab schon immer Blues-Songs, die sich in total anderem Vers-Schema bewegen. Es gibt eindeutige Blues-Stücke, die nicht diesem Schema folgen. Ein Blues "darf" auch eine ganz andere Form haben. Beispiele dafür sind wirklich explizit komponierte Stücke (z.B. viel Chicago Blues aus der Feder von Wille Dixon), Songs mit einer gewissen "Tradition" in anderen Songs/Genres (z.B. Folk), oder einfach nur Songs von einfallsreichen Interpreten.
Die Form folgt dem Song - bei allem Formalismus wird oft vergessen, dass es beim auch Blues um Text und Melodie geht. Viele reden von den Gitarristen, ohne sich mal den Text anzuhören oder verstehen zu wollen. Blues-Songs sind Pop-Songs der damaligen Zeit, mit Text/Melodie/Arrangement wie Pop-Songs heute.
Beispiele:
- Howlin' Wolf - Spoonful (geschrieben von Willie Dixon): 8-Takte "Verse", 12-Takte "Chorus", Text geht durch und folgt nicht dem "klassischen" Pattern. Ist - nebenbei gesagt - auch mal wieder ein Song quasi ohne Tonartwechsel.
- Son House - Death Letter: Hier wird je Strophe nur eine Textzeile wiederholt. Gibt es viel viel öfter, als man so denkt.
5. BLUES HAT 12 TAKTE IM 4/4-Takt
Es ist richtig, dass sich das 12-Takte-Blues-Schema als ein gewisser Standard und "gemeinsame Sprache" etabliert hat. Ebenso ist richtig, dass es viele Blues-Songs in eben diesem 12-Takte-Schema gibt. Ich will hier aber betonen, dass es eben auch Blues in mit deutlich mehr (und auch mit deutlich weniger) Takten gibt. Es gibt sogar Blues ohne klare Form. Es gibt große Meister, die munter mal einen Schlag mehr einbauen oder auch mal einen weglassen, so dass man nicht von einem eindeutigen 4/4-Takt sprechen kann. Es gibt Blues mit 8 und 16 Takten, oder auch mal 10. Ein Song muss nicht 12 Takte haben, um Blues zu sein.
Gerade die Einzelkünstler, also der sich selbst begleitende Blues-Sänger, hatten ja alle Freiheiten und konnten machen, was sie wollten. Wenn man sich mal die Transkriptionen alter Delta Blues Stücke anschaut, findet man alle Arten von Taktwechseln, obwohl der "Beat" einfach so durchgeht. Aus einem Blues wird also kein Walzer, nur weil mal von 4/4 auf 3/4 gewechselt wird, und auch die 5/4 merkt man nur beim Nachzählen. Sie sind aber da.
Diese Freiheit hat es dann auch schwer gemacht, sowas in einem erweiterten Ensemble zu spielen. Es gibt einige Aufnahmen von John Lee Hooker oder auch Lightnin‘ Hopkins, wo die Backing Band einfach total nicht mitkommt - die Herren wechseln nämlich aus ihrer Gewohnheit als Solo-Artist die Akkorde und Form wie es ihnen passt, nicht wie es laut Schema sein "muss". Die Entwicklung hin zu einem formalisierteren Ansatz wurde also immer dort wichtig, wo der Blues sich vom alten "blues singer with guitar" zur lauteren, elektrischen Musik in den Städten (allen voran Chicago) oder in Richtung Jazz mit Ensemble entwickelt hat.
Klar ist es toll, wenn man mit wildfremden Musikern in der Blues-Standard-Form einfach mal losjammen kann. Aber jeder, der dabei war, wird irgendwann erfahren haben: Nun reicht’s aber auch, es wird etwas fad. Genau deswegen sind einige der bekannteren "Klassiker" eben auch Songs, die vom Standard-Schema abweichen. Es wird gerne ignoriert, dass man sich in viele Blues-Songs genau so reinarbeiten muss wie in heutige Pop&Rock-Songs.
Beispiele:
- Muddy Waters - Hoochie Coochie Man (auch mal wieder vom genialen Willie Dixon geschrieben): hat 16 Takte (8 Takte auf dem Grundton, dann die 8 hinteren Takte vom "klassischen" Bluesschema), notiert ist es im 12/8 Rhythmus (wie z.B. auch "Stormy Monday" von T-Bone Walker)
- Mississippi Sheiks - Sitting On Top Of The World (es gibt viele andere Versionen): 8 Takte. Die Version von Howlin' Wolf hat 9. Es gibt Menschen, die bezeichnen den Song nicht als Blues - ich schon, das Teil ist einfach Teil der Blues-Historie und Ausgangspunkt für viele andere Songs (z.B. auch Love In Vain). Tampa Red - It Hurts Me Too ist mit seinen 8 Takten quasi auch eine Version dieses Songs.
- Leroy Car & Scrapper Blackwell - How Long Blues: Noch ein absoluter Klassiker, den eigentlich jeder kennen sollte. 8 Takte.
- Lightnin‘ Hopkins - Mojo Hand (Live-Video von 1960): Macht Euch mal die Freude und zählt die Takte mit.
6. BLUES IST AUS DEM JAZZ ENTSTANDEN
Immer wieder - besonders in Deutschland - gern genommenes Statement: Jazz war früher da (hat also mehr "Tradition"), Blues hat sich auf dem Land als vereinfachte Form des Jazz entwickelt.
Das ist so nicht korrekt: Blues und Jazz haben parallel existiert (das kann man anhand der existierenden ganz alten Aufnahmen sehen und hören, auch Texte belegen dies), wobei Blues eher ländlicher und Jazz eher urbaner war. Die Grenzen zwischen beiden Genres ist fließend, es gibt viele Songs mit "Blues" im Namen (und auch der Form) im Jazz. Ragtime kann bluesig oder jazzig sein, und von einem eindeutig zweideutigen "Hokum Song" ist es zum klassischen Blues ebenso weit wie zum Jazz.
Die gegenseitige "Befruchtung" ist im Einzelnen aber nicht eindeutig nachzuvollziehen. Man muss bedenken, dass ein nationales Massenmedium damals fehlte: Radio fand Verbreitung erst in den 1920er Jahren und war eher ein lokales Medium (allein Mississippi hat ein Drittel der Fläche der heutigen BRD, Reichweite der Sender war begrenzt), Fernsehen und Internet gab es noch nicht, Platten hatte nicht jeder. Die Landschaft war also fragmentierter. Andererseits darf man aber nicht vergessen, dass es viel mehr lokale Zugverbindungen gab als heute, auch als einfacher Musiker konnte man also gut herumkommen. Und: Musiker waren schon immer überdurchschnittlich viel unterwegs und mobil, wodurch sie sehr viele Einflüsse mitbekommen haben und aufnehmen konnten.
Lassen wir es also dabei: Blues und Jazz haben freundschaftlich koexistiert und sich gegenseitig beeinflusst. Wer zuerst da war, ist mangels definitiver Quellen nicht nachvollziehbar.
Beispiele habe ich weiter oben bereits genannt - die frühen Aufnahmen mit eher jazz-artiger Begleitung, Interpreten wie Lonnie Johnson, und so weiter… und klar, auch die vielen Blues-Progressions in Jazz-Standards.
7. JAZZ IST DIE WEITERENTWICKLUNG DES BLUES
Noch lieber gemachte Aussage als die vorige (gerade von der deutschen Jazz-Polizei: Blues als simple Form ist letztlich im Jazz aufgegangen und wurde dort (zu was Besserem) weiterentwickelt.
Stimmt so leider auch nicht.
Anerkennen muss man, dass im Jazz die Weiterentwicklung deutlich dynamischer war als im Blues. Wer will, kann im Blues zwar zwischen Stilen wie Delta, Piedmont, West Coast, Chicago, Jump Blues, Hokum, etc. unterscheiden - aber oft klappt das nur sehr bedingt (nicht jeder Song aus dem Mississippi Delta ist auch Delta Blues, da geht’s schon los). Zudem sind die Unterschiede deutlich kleiner und weniger revolutionär als im Jazz. Was dort mit Bebop, Free Jazz, etc. passiert ist, sind ganz andere Nummern als die Weiterentwicklung innerhalb des Blues-Genres.
Auch muss man an dieser Stelle sagen, dass sich Jazz bis heute viel mehr weiterentwickelt hat. Der Weg von Jazz/Swing als Tanzmusik hin zur "musician’s music" für gebildete Musiker und ebensolches Publikum macht Jazz bis heute spannend, immer wieder gibt es Neues. Blues ist im Gegensatz dazu bis heute "Popmusik" geblieben - aber die Popmusik von heute ist nicht mehr die Popmusik der 1930er-1960er Jahre, Blues kann also durchaus als etwas angestaubt bezeichnet werden. Blues hat heute wahrscheinlich eine deutlich kleinere Fan-Gemeinde als Jazz. Es gibt sogar Menschen wie mich, die Blues als "tote" Musikform bezeichnen: Die Aufnahmen sind gemacht, sie werden immer wieder neu interpretiert, aber es fehlt die soziokulturelle Relevanz und somit auch ein Anreiz zur Weiterentwicklung.
So findet man also Blues als Unterkategorie von Jazz Festivals, viele moderne Blueser bringen Jazz-Elemente und -Akkorde im Blues unter, viele Jazzer spielen umgekehrt auch Blues-Songs. Ist doch alles gut so! Erkennen wir an: Jazz ist musikalisch interessanter und herausfordernder. Was einen selbst mehr berührt, kann man nur selbst herausfinden. Man muss sich nicht dafür schämen, Fan von kratzigen Aufnahmen ungelernter Gitarristen/Sängern zu sein - man sollte sich aber bewusst sein, dass man Teil einer recht kleinen Gruppe ist.
8. BLUES IST TRAURIG
"The Blues as what consists between male and female in love" hat Son House gesagt. Es gibt viele Blues-Definitionen, Zitate, und so weiter. Und JA, dieses Thema von "having the blue devils" und "feeling blue" hat eindeutig was mit einer irgendwie depressiven Stimmung zu tun. Es gibt also dieses traurige Element durchaus. Zudem handelten die Texte auch oft vom harten Alltag der Menschen, auch nicht immer so rosige Ausgangslage.
Aber: Blues war eben oft auch das genaue Gegenteil. Der Spaß in schwierigen Zeiten, das Dem-Teufel-ins-Gesicht-Lachen, der etwas seichtere Song zu Liebe und/oder Sex, oder eine in Musik verpackte aktuelle Geschichte oder Begebenheit. Blues kann all das sein und muss nicht nur traurig sein. B.B. King (als prominentes Beispiel) und andere große Blueser hat man oft lachen gesehen!
Gemein ist vielen Aussagen von Bluesern aber, dass es um "echtes" Feeling geht, um in Musik gefasste Gefühle. Ich wiederhole mich, aber ich finde es auch wichtig: Es geht nicht um Form, Harmonien und Riffs, sondern eben auch um Melodie und Text.
Zwei Zitate will ich hier mal wiedergeben:
Muddy Waters: When I sing the blues, when I’m singing the ‘real’ blues, I’m singing what I feel. Some people maybe want to laugh; maybe I don’t talk so good and they don’t understand you know? But when we sing the blues - when I sing the blues it come from the heart. From right here in your soul, an’ if you singing what you really feel it comes out all over. It ain’t just what you saying, it pours out of you. Sweat runnin’ down your face.
Victoria Spivey: To pay too much heed to standardized blues tones and bars spoils the emotional impact inwardly for yourself. . . You must feel in your heart most of all, not in your brains or in the interest of your pocket. Let your manager worry about your pocket. Flat tones, whether they be hard or soft, show the freedom in blues singing. You should never know when they come out of you. The heart will tell the voice when.
Victoria Spivey: To pay too much heed to standardized blues tones and bars spoils the emotional impact inwardly for yourself. . . You must feel in your heart most of all, not in your brains or in the interest of your pocket. Let your manager worry about your pocket. Flat tones, whether they be hard or soft, show the freedom in blues singing. You should never know when they come out of you. The heart will tell the voice when.
Es geht also um starke Emotionen, aber nicht nur um negative... Hauptsache echt!
Beispiele:
- Lead Belly - Good Morning Blues: Hier eine tolle Blues-Definition, im unvergleichlichen Leadbelly-Stil. Der Text besingt den Blues an sich, aber der Refrain zeigt durchaus auch die etwas humoristische Seite.
- Muddy Waters - Mannish Boy: Strotzt vor Selbstbewusstsein, positiver Einstellung und Lebensfreud. Gilt auch beim sehr verwandten Hoochie Coochie Man.
- Bukka White - Bukka's Jitterbug Swing: Jetzt mal abgesehen vom sexuell aufgeladenen Text, das ist doch ein Song, bei dem es keinen auf dem Sitz hält.
- Bo Carter - Banana In Your Fruit Basket: Er will seine Banane in ihren Früchtekorb stecken. Soso. Jeder Vers ist eine andere Sex-Metapher, beileibe kein Kind von Traurigkeit.
9. BLUES KOMMT AUS AFRIKA
Blues ist in "African-American communities" entstanden. Gemeint sind damit die zum hohen Anteil von Schwarzen bewohnen Gebiete im tiefen Süden der USA. Das, was wir als Blues bezeichnen, ist wohl Ende des 19. Jahrhunderts entstanden - natürlich auch aus afrikanischer Musik (oder dem, was nach Generationen Sklaventum davon übrig geblieben war), aber zudem mit starken Einflüssen europäischer Musik (auch hier waren die USA ja ein Schmelztiegel vieler Stile, von Irish Folk über Volkslieder aus Frankreich und und und) sowie Kirchenliedern, Balladen, Work Songs / Field Hollers, und so weiter. Blues kann sich also nicht über einen Mangel an Einflüssen beklagen - ist aber letztlich eine in den USA entstandene Musikform.
Mann kann darüber streiten, wie "afrikanisch" Blues ist. Es gibt Musiker und auch Gelehrte, im Blues sehr starke afrikanische Wurzeln sehen, andere bezeichnen Blues als ur-amerikanische (nicht afrikanische) Musikform. Unbestritten ist, dass viele "klassische" Blues Elemente, wie beispielsweise Blue Notes, Rhythmik, an Pentatonik orientierte Melodien, auch in Afrika auftauchen. Es gibt Gegenden in Afrika, da klingt die "traditionelle" Musik fast wie Blues - aber wie beim Blues gibt es wenige bis keine Dokumente, wie diese Musik entstanden ist und seit wann es sie gibt und was hier wiederum die beeinflussenden Elemente waren.
Weder in Afrika noch in den USA sind die Anfänge des Blues also gut dokumentiert. Aufgeschrieben wurde wenig, Noten kannte kaum ein Musiker, Aufnahmen gab es schlichtweg nicht, und interessiert hat es damals auch niemanden. Es gibt also kaum Dokumente! Da hat die europäische Musik deutliche Vorteile, dank Notenschrift ist einfach viel mehr nachvollziehbar.
Wie dem auch sei: Verabschieden sollten wir uns davon, dass ein armer Schwarzer gestern in irgendeiner Wüste in Mali auf einer Gitarre den Blues gezupft hat, dann *zack* als Sklave nach Mississippi verschleppt wurde und dann im Südstaaten Slang "I be's troubled" gesungen hat. Wir reden hier über eine lange Zeit, viele Einflüsse und Zusammenhänge. Es gab schon Blues, bevor er als solcher bezeichnet wurde - aber wann das genau war, kann man wirklich nicht mit Gewissheit sagen.
Unumstritten ist aber, dass "klassische" Blues-Instrumente wie Banjo (später wurde dann die Gitarre populärer), Mundharmonika oder auch das Klavier nicht aus Afrika stammen. Das Banjo hat afrikanische Wurzeln, ist aber im Süden der USA entstanden. Andere Instrumente wurden, einfach weil sie eben da waren, für alle Arten von Musik genutzt.
Man kann Blues und Afrika schon sehr nah zusammenbringen und es funktioniert sehr gut. Aber dasselbe ist es nicht.
Beispiele
- Boubacar Traoré & Ali Farka Touré - Duna Ma Yelema: Afrikanischer Blues wird das manchmal genannt, und in der Tat sind Afrika und Blues hier sehr nah beieinander finde ich.
- Ry Cooder & V. M. Bhatt - Isa Lei - Amerikanischer Blues-und-Bottleneck-Meister und indischer Gitarrist spielen einen Hawaiianischen Song. Nein, das ist jetzt kein Blues, zeigt aber, wie viel man aus unterschiedlichen Kulturen zusammenbringen kann.
- Ed & Lonnie Young - Chevrolet: Die Fife&Drum-Tradition aus Mississippi kann man sich wirklich gut auch mitten in Afrika vorstellen. Gerade der Rhythmus hat es schon irgendwie in sich.
10. BLUE NOTES SIND KLEINE TERZ, KLEINE SEPTIME UND VIELLEICHT VERMINDERTE QUINTE (TRITONUS)
Die in der heutigen (westlichen) Musik verwendete Tonleiter mit ihren 12 Halbtonschritten und gleichstufiger Stimmung gibt ein Schema vor, wie Noten "zu klingen haben". Jedem sollte aber klar sein, dass es zwischen zwei definierten Noten beliebig viele Zwischentöne gibt - mann kann sie singen, aber auf einem Tasteninstrument oder einem bundierten Saiteninstrument nicht ohne Tricks spielen.
Das stellt uns dann auch bei den "richtigen" Blue Notes vor Probleme - die kommen aus einem anderen Tonsystem. Eigentlich es sind die Töne zwischen kleiner und großer Terz, in der Nähe der Septime (z.B. Naturseptime), und zwischen verminderter und reiner Quinte. Einfacher gesagt (ich bin ja nun auch beileibe kein versierter Musiktheoretiker): Es geht nicht um Halbtonschritte, sondern um die Achtel/Viertel/irgendwas dazwischen.
Das erklärt ein bisschen, warum eine Moll-Pentatonik so super zu einem Blues in Dur7 passt: Blue Notes, gerade die b3, sind halt irgendwo "zwischen" Dur und Moll, dieser Konflikt kommt bei diesem Zusammenspiel gut durch.
Blue Notes sind also etwas Persönliches, man kann sie nicht exakt definieren, nicht exakt in Notenschrift aufschreiben. Daher klingen nach Noten gespielte Vocal-Melodien von Blues-Songs (oder auch Soul, R&B), wenn man die originale Aufnahme im Kopf hat, oft "irgendwie falsch". Die eigenen Blue Notes muss man selbst finden und spielen - hier geht im Zusammenspiel einer Band mit Instrumenten naturgegeben viel verloren. Gerade deshalb komme ich ja immer wieder auf die gesungenen Vocals (kein Bundstab im Menschen!) zu sprechen, und auch deshalb funktionieren Techniken wie Bottleneck/Slide so super, und auch deshalb arbeiten die Blues-Gitarristen mit Bends und Vibrato. Es geht um die feinen Noten, die wir vielleicht gar nicht aktiv hören… aber doch irgendwie spüren und fühlen.
Ach ja - es gibt die Blue Notes nicht nur im Blues. Auch Irish Folk kennt sowas (hat einen anderen Namen, aber geht um dasselbe), und natürlich gibt es viele viele andere Musikstile, wo man mit diesen Tönen arbeitet.
Beispiel:
- Skip James - Devil Got My Woman: DAS Beispiel schlechthin. Gitarre in Open E-Minor, aber die Mollterz selbst taucht kaum auf. Vocals mit Noten zwischen allen "wohltemperierten" Fixpunkten. Es gibt ganze Artikel nur zu diesem Song, wo man die Harmonien analysiert und sich an Interpretationen und Einordnungen versucht. Manches klingt irgendwie schief, aber doch sehr passend.
11. BLUES BRAUCHT PENTATONIK
Es stimmt schon, dass Blues gut zur Pentatonik passt. Die "Blue Notes" findet man in einer pentatonischen Tonleiter aus Afrika - diese hat aber in unserem westlichen Tonsystem keinen Platz, sie passt da nicht wirklich hinein. Irgendwann hat sich im Gitarren-Bereich das Single-String-Solo entwickelt, da mussten Töne her. Irgendwann hat man gemerkt, dass die Moll-Pentatonik zum Dur(7)-Blues total super passt, und das sogar immer und durch den ganzen Song.
Angefangen hat das deutlich anders, nämlich als Gesangsmelodien, Field Hollers, Work Songs… irgendwann dann Blues mit Begleitung, als Band, wie auch immer. Die allerwenigsten Interpreten hatten eine Ahnung von formaler Musik und Harmonielehre, es wurden Melodien geschaffen, die klangen und in das passten, was damals "in" war. Im "klassischen" Blues spielen Noten aus der Vokal-Melodie und den zugrunde liegenden Akkorden eine viel erheblichere Rolle als die Pentatonik, und die wenigsten (halbwegs interessanten) Blues-Soli speisen sich rein aus der Pentatonik. Nicht mal die heute bekannte Blues-Scale reicht aus, wird sie doch gern durch Slides, Trilller, etc. um weitere Elemente erweitert.
Auch hier wieder - ja, es gibt den ganz ganz einfachen Blues, der aus ganz ganz wenigen Noten besteht, gerne auch nur 5. Es gibt aber auch deutlich elaboriertere Melodien - und vor allem gab es eine Zeit vor Gitarrensoli mit gezupften Einzelnoten. Von Robert Johnson gibt es exakt einen einzigen Vers Solo in einem Take von "Kind Hearted Woman". Es gibt sehr sehr viele alte (und ich definiere "alt" hier bis in die 1960er Jahre hinein) Blues-Songs ohne Solo. Vielleicht besser so manchmal, wenn man sich das ewige Rumgenudel anschaut, das es heute so gibt. Blues waren immer Songs, es gab Text und Botschaft und Story. Das Solo - besonders das auf Basis der heute so geliebten (Moll-)Pentatonik - kam danach und steht in der Bedeutung weit hinten. Der mehrfach erwähnte Lonnie Johnson wurde sehr konsequent als Sänger beworben, nicht als toller Gitarrist.
Also: Blues geht ohne Pentatonik. Wer Blues lernen will, sollte sich die Songs mit ihren Akkorden und Melodien anschauen (und einen Blick auf die Texte werfen) und dann spielen und hören und spielen. Unmotiviertes Penta-hoch-und-runter-dudeln ist kein Blues.
Beispiele:
- Das Skip James Beispiel oben passt klarerweise auch hier. Sonst gilt - genau hinhören und analysieren und nachspielen. Es gibt mehr als die Boxen und Patterns.
12. BLUES IST KLAR ABGRENZBAR
Okay, der Punkt ist etwas geschummelt, denn er sagt dasselbe wie der erste. Naja, seht es wie einen klassischen 12-Bar-4/4-Blues-mit-I-IV-V-Schema - der endet auch nicht wirklich, sondern geht immer weiter, weil im 12. Takt auf dem doofen Septakkord nicht Schluss sein kann… bis man sich irgendwann dazu durchringen kann, auf einem I7-Finale zu enden. So auch im Artikel hier.
Ich habe in den einzelnen Punkten ein wenig dargelegt, aus was für einem Potpourri Blues entstanden ist, und in diese bunte Mischung hinein hat der Blues auch gewirkt. Es gibt bluesige Passagen in erzkonservativen Bluegrass-Songs. Es gibt triefende Slide-Soli in progressiven Rock-Songs. Alte Blueser der 1930er sind explizit erwähnte Vorbilder/Influences von Künstlern der 2010er (80 Jahre danach!), wie beispielsweise Jack White oder Dan Auerbach. Schon davor: "The Blues had a baby, and they named it Rock'n'Roll".
Als Beispiel ziehe ich hier das für mich bewegendste und mit weitem Abstand bluesigste Stück aller Zeiten heran, ein Meilenstein der Musik- und Gitarrengeschichte: "Dark Was The Night - Cold Was The Ground" von Blind Willie Johnson finde nicht nur ich toll, sondern ganz viele Menschen. Nun muss man aber wissen, dass eben jener Blind Willie kein Blueser war, sondern ein hochreligiöser "Guitar Evangelist", also ein Prediger mit Gitarre. Praktisch alle seine Lieder handeln vom Glauben und Gott, er wäre wahrscheinlich zutiefst beleidigt gewesen, wenn ihn jemand in eine Kategorie wie die "teuflischen" Blueser gesteckt hätte. Dennoch - obwohl der Inhalt tief religiös ist (es geht um die dunkle Nacht und kalten Boden, als Jesus am Kreuz starb), so kommen doch die Melodie, Interpretation und Feeling gleichermaßen aus Blues und Gospel und gehen für den unbedarften Hörer als Blues durch. Auch wenn’s (eigentlich, nach Bluespolizistenmeinung) keiner ist bzw. sein kann. Na gut, manche nennen das dan "Gospel Blues".
Beispiel:
- Blind Willie Johnson - Dark Was The Night (Cold Was The Ground)
NACHWORT
Es gibt also mindestens 12 gute Gründe, sich mal ein wenig mit dem Blues-Schema und dessen Sinnhaftigkeit auseinanderzusetzen. Viel mehr Gründe gibt es, mit der eigenen Band anstatt des namenlosen "Blues Jam in A" sich vielleicht mal ein konkretes Stück herauszusuchen und auf dieser Basis was Eigenes zu entwickeln. Noch mehr Grund hat man, mal ganz bewusst aus dem Blues-Schema auszubrechen und neue Wege zu suchen. Unendlich viele Gründe gibt es, mit offenen Ohren durch die Welt zu laufen und sich für Musik zu interessieren.
Wenn dieser Text den einen oder anderen User zum Nachdenken bringt oder bei ganz wenigen Usern das Interesse weckt, tiefer in die Materie einzusteigen, wäre ich schon sehr happy. Ich habe schon lange aufgegeben, irgendjemanden zum Blues-Fan zu machen - diese Reise muss man für sich selbst und aus eigener Motivation heraus starten. Wenn nicht - auch gut, mir hat es wie zu Beginn gesagt viel Freude bereitet, das hier aufzuschreiben.
Ich bin mir bewusst, dass die große Diskussion dieses Mal wahrscheinlich ausbleiben wird - dazu ist das Blues-Forum einfach zu wenig frequentiert und die Blues-Fans mit tiefergehendem Interesse hier im Forum eine zu kleine Gruppe.
Also ist dieser kleine Aufsatz eher ein "Labor of Love" - natürlich freue ich mich aber ausdrücklich über Kommentare, Feedback und Diskussionen...
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