Auf die (leidlich) von mir in Post #4 aus dem Gedächtnis zitierte Untersuchung muss ich aber nochmal eingehen, überhaupt auf diese ominöse Größenordnung von 10.000 Stunden Übung die zum Erreichen eines meisterhaften Niveaus nötig seien, jedenfalls statistisch.
In der Tat berücksichtigt dieser reine Blick auf die Quantität in keiner Weise die Qualität mit der diese Stunden gefüllt werden, bzw. geht scheinbar davon aus, dass die Qualität per se gemittelt immer gleich sei.
Das ist aber in der Praxis ganz und gar nicht so, was mir aber erst so richtig und im Detail erst bewusst wurde, als ich Ende der 80-er Jahre mit der von G.O. van de Klashorst entwickelten "Dispokinesis für Musiker" kam (und dann auch über seinen Lehrgang und später als einer seiner Assistenten mit ihm selber).
Dabei war ich selber sozusagen leidgeprüft, weil ich aufgrund von Fehlhaltungen und daraus resultierenden Fehlspannungen/Verspannungen mit Nacken-, Schulter- und Rückenspannungen zu tun hatte, aber auch mit technischen und motorischen Problemen am Instrument.
Durch die Dispokinesis konnte ich später gut analysieren, wie das alles zusammen hing, ich kam auch über die Kurse, die eigene Unterrichtstätigkeit als "Dispokinesiopaede" usw. mit vielen ähnlich leidgeplagten in Kontakt.
Daher denke ich, dass ich sehr dezidiert sagen kann, dass der Blick nur auf die Quantität des Übens ohne dessen Qualität mit einzubeziehen erheblich zu kurz greift (wobei ich ohnehin davon ausgehe, dass dies wohl für die meisten Übenden und Musizierenden im Grunde eine Binsenweisheit ist).
Ein Beispiel: Ein Streicher übt und spielt mit einer Bogenführung bei der immer der Bizeps ein wenig zu stark beteiligt ist. Der Bizeps ist in der Hauptsache ein Kraftmuskel, und je mehr der ins Spiel kommt, vor allem als Agonist (der federführende Muskel bei einer Bewegung), dann werden die feinmotorischen Muskeln der Hand immer mehr gehemmt und fester. Der Bizeps darf in feinmotorisch orientierten Bewegungsabläufen der Arme (und die Bogenführung ist von ihrem Ausdruck her prinzipiell feinmotorisch) nur als Synergist tätig sein (also als ein helfender/unterstützender Muskel).
Da diese unterschwellige Spannungen dem Übenden in diesem Beispiel absolut unbewusst sind (in allen Fällen, die mir begegnet sind der Normalfall), wird sie zum einem ein angelerntes stereotypes Fehlspannungsmuster (das Gehirn und das Nervensystem lernt und speichert auch komplett falsche Dinge), und zum anderen schaukelt sie sich Im Laufe der Zeit immer mehr auf. Die Bogenführung läuft immer stärker und früher fest. Bogenzittern, verminderte Dynamik (vor allem der Verlust des p und pp) und der Verlust von Ausdrucksfähigkeiten sind die Folge, was auch schließlich auch dem Lampenfieber und der Spielangst Auftrieb gibt. Nicht wenige brechen sogar das Studium ab.
Und das maximal fatale daran ist, dass sich diese Abwärtsspirale umso schneller dreht, je mehr und intensiver geübt wird! Der allfällige Rat "... du musst mehr Üben!" wird geradezu zum Todesstoß für den ansonsten hochmotivierten (und in nicht wenigen Fällen auch musikalisch sehr talentierten) angehenden Musiker.
Da die zitierte Untersuchung natürlich nur diejenigen mustern konnte, die letztlich dabei geblieben waren (es wurden nur Musikstudenten bis zum Examen einbezogen, weitere berufliche Zeiten wurden nicht betrachtet - und bei vielen werden die Probleme erst später, z.B. im Orchester manifest), und die Evaluation der Übezeit retrospektiv sein musste, es also keine identischen Startbedingungen gab, vielen schon mal z.B. Abbrecher durch das Raster, obwohl sicher manche darunter nicht weniger, manche vielleicht sogar mehr Übezeit ´auf dem Buckel´ hatten als die examinierten Studienteilnehmer.
Hinzu kommt, dass sich die Übezeit statistisch gut erfassen und quantifizieren lässt, was für Studien überaus praktisch ist, die Übequalität hingegen nicht. Bzw. müssten erst Methoden und Verfahren entwickelt werden, mit denen man die Übequalität sozusagen messen könnte. Das hat man aber aus den beschriebenen naheliegenden Gründen nicht gemacht.
Dann wäre auch noch der Aspekt des mentalen Übens mit einzubeziehen. Selbst das Musikhören gehört (unbedingt!) dazu, also eine Zeit, in der zwar nicht praktisch gebübt wird, in der dennoch unfassbar viel gelernt werden kann, was einen am Instrument bzw. beim Musizieren weiter bringt.
Ich erinnere mich noch gerne an die Jazz-Kurse, die ich im Anschluss an meine Klassik-Studien bei Joe Viera gemacht habe, der öfter mal bei uns am Niederrhein gastierte und z.B. Jazz-Workshops an Schulen machte, an der Uni Duisburg war auch auch eine zeitlang Dozent.
Er sagte immer, dass die Hälfte der Übezeit mit Hören guter Aufnahmen verbracht werden sollte (den Jüngeren zur Info: das war noch in der Zeit vor dem Internet wo alles mit einem Klick verfügbar ist). Das spezielle Mikrotiming, die Phrasierung und überhaupt Ausdruck und Details der Inetrpretation und Improvisation könne man nur durch das intensive Hören der guten Musiker lernen. Wie wahr!
Wer immer nur in seinem (faktisch ja dann doch nicht wirklich) "stillen Kämmerlein" Tonleitern, Etüden und sonst sein ganzes Zeugs rauf und runter dudelt, der wird (wenn ihn keine Fehlspannungs- und Fehlbewegungsstereotype ereilen) mit vielen Stunden sicher ein technisch brillanter Instrumenten-Bediener. Aber ein ausdrucksstarker und kreativer Musiker? Nicht unbedingt.
Üben ist also eine vielschichtige Sache, die in ihrer Komplexität auch erst gut gelernt sein will. Wer es richtig macht. der holt aus einer Stunde Üben wohl mehr heraus als ein anderer, der drei Stunden paukt.