Ich habe seit einem Jahr einen 12-jährigen Schüler, der vorher keinen Unterricht hatte und kein anderes Instrument gespielt hatte. In der Probestunde vor einem Jahr spielte er mir
Für Elise mit allen Teilen und den
Minutenwalzer vor, beides in einem Höllentempo, absolut fehlerfrei und komplett ohne Ausdruck. Ich stellte ihm dann das
Album für die Jugend aufs Notenpult. Seine Reaktion: Noten lesen kann ich nicht. Auf meine Frage, wo er denn die Stücke gelernt habe, antwortete er: Von Youtube. Ich habe ihm dann klar gemacht, daß er bei mir Noten lernen müsse, das war aber kein Problem für ihn.
Ich stellte mich also darauf ein, daß ich nun ein halbes Jahr lang mit ihm Noten lernen muß. Irrtum: Er konnte das nach
2 Wochen!!! Es es sind nur unwesentliche Kleinigkeiten, die ich ihm noch erklären muß. Er hat in diesem Jahr Dur- und Molltonleitern, Dreiklangsumkehrungen, Kadenzen, Arpeggien, Stufendreiklänge arpeggiert über drei Oktaven uvm. in allen Tonarten gelernt und kann das alles immer noch. Wir haben den halben Burgmüller durchgespielt, einige schwerere Sachen aus dem Album für die Jugend, eine Sonatine von mir (weil ich wissen wollte, ob er doch zu Hause alles nach Youtube lernt
), nebenbei noch ein paar 4-händige Sachen mit einer anderen Lehrerin und noch manch anderes.
Er spielt mir
alles, was ich ihm gebe, in der nächsten Woche fehlerfrei vor. Wir arbeiten dann gezielt am Ausdruck und an Spieltechnik, falls nötig. Inzwischen hat er auch gelernt, den Stücken selbständig Ausdruck zu geben, aber es fehlt ihm noch an Stilsicherheit. Ich könnte ihm auch die Revolutionsetüde aufgeben, und er würde sie sehr schnell lernen. Das mache ich aber nicht, mir geht es nicht um virtuose Bravourstückchen. Ich will ihn lieber etwas langsamer und sicherer aufbauen, und ihm stilistische Breite, Repertoirevielfalt, Ausdruck und musikalische Tiefe (was auch immer das ist) vermitteln. Er braucht ein bombensicheres Fundament, das nicht wackelt. Als letztes spielte er die D-Moll Fantasie von Mozart. Mit deren Ouvertüre haben wir auch mit den ersten Improvisationsübungen begonnen. Nach den Ferien kommt dann wahrscheinlich die erste Beethovensonate dran.
Seine Eltern haben irgendwo im asiatischen Raum Wurzeln, und da dachte ich, daß sie ihn drillen. Weit gefehlt: Er ist der einzige in der Familie, der ein Instrument spielt, er wird zu nichts gezwungen, es kommt alles aus ihm selbst. Die Eltern sind völlig entspannt.
Es geht alles rasend schnell bei ihm, und ich muß eigentlich immer bremsen, um mehr in die Tiefe zu kommen. Mir macht es ungeheuren Spaß, mit ihm zu arbeiten, denn er ist einer der nicht allzu zahlreichen Schüler, bei denen die Fülle meines in Jahrzehnten angesammelten Wissens und Könnens auf ausgesprochen fruchtbaren Boden fällt.
Fazit: Es gibt solche Menschen, die so schnell lernen. Ich hatte auch mal einen gehandicapten Schüler, der brauchte 2 Jahre für einen neuen Gitarren-Akkord. Nach 10 Jahren konnte er 5 Akkorde. Für mich sind trotzdem beides Musiker und tolle Menschen, von denen ich wiederum lernen kann.
Viele Grüße,
McCoy