Nun frage ich mich aber ob euch bestimmte Beispiele einfallen wo dieser Modus trotzdem in Songs verwendet wird; Wikipedia meint dass dieser oft in Metal und Jazz verwendet wird und es gab dazu glaube ich auch ein interessantes Video von David Bennett Piano zu. Mich interessiert es aber ob euch selbst einige Lieder einfallen wo der lokrische Modus tatsächlich verwendet wird oder ob er wirklich so selten ist - und ob es vielleicht noch gründe gibt die ich hier gar nicht aufgelistet hab warum lorkisch so "dissonant" klingt
Der englischsprachige Wikipedia-Eintrag
https://en.wikipedia.org/wiki/Locrian_mode listet ja bereits einige Beispiele zur Verwendung von Lokrisch.
Da sind diverse Komponisten des 20. Jahrhunderts vertreten, im populären Bereich wird aber nur 'Dust to Dust' von John Kirkpatrick genannt (Folk) und 'Army of Me' von Björk (Strophe in Lokrisch), das ja auch im oben verlinkten Video erwähnt wird.
Nun, warum wird Lokrisch so selten als eigenständige Tonart genutzt?
Betrachtet man das Tonmaterial, so hat Lokrisch das Skalenmuster 1-2-2-1-2-2-2 (Halbtonabstände der benachbarten Töne beginnend ab dem Grundton der Skala).
Es gibt also nur Halbton- und Ganztonschritte. Es gibt keine übermäßige Sekunde (Hiatus, Abstand 3) wie in Harmonisch Moll, und es gibt keine zwei direkt benachbarten Halbtöne (Folge 1-1 im Skalenmuster) wie z.B. bei Doppelt Harmonisch (d.h. die Skala ist nicht cohemitonisch).
Worauf ich hinaus will - in Lokrisch gibt es keine unsanglichen, melodisch problematischen Konstruktionen. Melodisch ist Lokrisch nicht schwierig zu handhaben. Es ist nicht besonders schwer, aus den Tönen des Lokrischen melodische Phrasen zu bauen, die z.B. gut zu singen sind und bei denen sich ein guter Grundtonbezug einstellt (d.h. bei denen man den Basiston des Lokrischen als Grundton empfindet). Dabei kann man sich auf die b2 als fallenden Leitton stützen, der den Grundton gut stabilisiert.
Tatsächlich gibt es nur 14 siebentönige Skalen, die so gutartig sind wie Lokrisch (in dem Sinne, keine übermäßige Sekunde oder noch größere Intervalle benachbarter Töne und keine direkt benachbarten Halbtöne zu enthalten), das sind gerade die Modi der Dur- und der Melodisch Moll-Skala.
Zum Vergleich: Es ergeben sich insgesamt 175 siebentönige Skalen (über einem gegebenen Grundton), wenn man auch übermäßige Sekunden und Ketten aus zwei Halbtönen hintereinander zulässt. Das Lokrische gehört, was die Melodik angeht, also zu den 10% der einfachsten Skalen überhaupt.
Die Schwierigkeit in der praktischen Nutzung des Lokrischen besteht tatsächlich nur in der Harmonik.
Das wurde ja auch schon mehrfach angemerkt:
Ein m7b5-Akkord als Tonika oder Dominante ist nur schwer vorstellbar ...
Dazu müßte der Akkord Cm7b5 als Tonika funktionieren ... tut er aber nicht.
Deswegen kann auch die dazugehörende Tonleiter/Chordscale lokrisch als Basistonleiter nicht funktionieren.
Schaut man die leitereigenen Dreiklänge an, so sitzen über den anderen Stufen Dur- und Moll-Akkorde, im Vergleich dazu ist der verminderte Dreiklang auf der ersten Stufe viel zu instabil, um im Vergleich ein Grundtongefühl herstellen zu können.
Geht man (wie im Jazz üblich) auf die Stufen-Vierklänge über, dann geben ebenfalls die Dur-Major7, Dur7 und Moll7-Akkorde über den anderen Stufen eine viel bessere Tonika ab als der m7b5 über dem Grundton des Lokrischen.
Das Problem liegt nicht am m7b5-Akkord selbst, der halbverminderte Akkord kann ja bei entsprechenden Voicing durchaus schön klingen. Aber es ist schwierig, Harmoniefolgen aus den Stufenakkorden zu bilden, die mit dem m7b5 enden und bei denen sich ein Abschluss- und Ruhepunkt-Gefühl einstellt.
Bis dahin bleibt der (Skalen-)Modus lokrisch m.E. nicht zur Verwendung über eine einfache funktionsharmonische Akkordfolge wie im zitierten Beispiel geeignet.
Genau das ist eben der Haken, reines Lokrisch ist funktionsharmonisch schwer zu nutzen, das heißt aber nicht, dass man es nicht in einem modalen Kontext nutzen könnte.
Wenn, wie Turko ja schreibt, der m7b5 nicht als Tonika taugt, dann muss man sich einen anderen Klang suchen, der als Ruheklang in Frage kommt, das ist der Ansatz, den Adam Neely im obigen Video für sich gewählt hat.
Oder man macht es noch etwas interessanter und sucht eine Abfolge aus mehreren Klängen, die den Tonvorrat abdecken und den gewünschten Grundton als solchen ausreichend stützen (d.h. nicht zu anderen möglichen Grundtönen in die Irre leiten).
Eine allgemeine Methode hierzu, die bei beliebigen siebentönigen Skalen funktioniert, ist die Generic Modality Compression.
Wie diese Methode funktioniert, habe ich in einem anderen Thread schon einmal erläutert.
https://www.musiker-board.de/thread...h-diese-anzueignen.694679/page-2#post-8821003
Es handelt sich um eine kombinatorische Methode, mit der man systematisch alle Zerlegungen des Tonmaterials einer Skala in zwei Vierklänge über dem Grundton der Skala finden kann, die zusammen jeden Skalenton abdecken.
Mit "Vierklang" ist hier ein beliebiger Klang aus 4 verschiedenen Skalentönen gemeint, nicht ein Vierklang im Sinne einer Schichtung aus 3 Terzen wie bei den Stufenakkorden.
(Die Vierklänge sind also beliebige "Stacks of Notes", wie Neely das nennt, nur eben hier 2 Stacks aus 4 Tönen und nicht wie bei ihm ein einzelner 5-töniger Stack.)
Für jede 7-tönige Skala, also auch für das Lokrische, gibt es genau 10 solche Zerlegungen.
Nehmen wir mal Gitarristen-freundlich das E Lokrisch mit den Tönen E F G A Bb C D als Basis, dann sind diese Zerlegungen:
1. E F G A vs. E Bb C D
2. E F G Bb vs. E A C D
3. E F G C vs. E A Bb D
4. E F G D vs. E A Bb C
5. E F A Bb vs. E G C D
6. E F A C vs. E G Bb D
7. E F A D vs. E G Bb C
8. E F Bb C vs. E G A D
9. E F Bb D vs. E G A C
10. E F C D vs. E G A Bb
Man kann jetzt jedes dieser Vierklang-Pärchen einmal durchtesten und sich (durch Oktavieren und/oder Verdoppeln der Töne) Voicings oder auch Akkordzerlegungen überlegen, in denen sich die Abfolge musikalisch brauchbar anhört und den Grundton E stützt.
Für manche der Pärchen wird man das vermutlich nicht schaffen, aber ein paar bleiben, die verwendbar sind.*
Als Ergebnis hat man dann einen modalen harmonischen Kontext, über dem man das Lokrische auch melodisch einsetzen kann.
(Man kann auch von einem der Pärchen zu einem anderen übergehen und man muss auch nicht das E immer als Pedalton behalten, das ganze ist nur eine Hilfestellung, um das Tonmaterial zu erkunden und überhaupt funktionierende Ansätze zu finden. Sobald man etwas hat, kann man davon ausgehend natürlich frei weitermachen).
* Welche das sind, lasse ich hier bewusst offen, möchte Euch beim kreativen Ausprobieren ja nicht beeinflussen!