Guten Tag,
auch mir ging es wie dem TE. Ich bin Mitte 50, war am Gymnasium in der Harmonielehre gescheitert und 10 Jahre später erneut, als ich an der Musikschule Gesangsunterricht nahm und im Musiktheorieunterricht als Sänger alleine zwischen lauter halb so alten Instrumentalisten saß. Seit Jahrzehnten höre ich auch sehr viel Klassische Musik, und seit 2,5 Jahren versuche ich meinen Traum zu erlernen: E-Gitarre spielen, bissl Rock und irgendwann dann auch Fingerstyle electric.
In der Musiktheorie scheitere ich aber nach wie vor. Mein Lehrer empfiehlt immer wieder das
Buch "In vivo Guitar", von Abi v. Reinighaus. Er argumentiert, es gibt für Gitarristen im deutschen Sprachraum sonst nur fehlerhaft übersetzte angloamerikanische Literatur. Ich kaufte mir "In vivo Guitar" also sofort, doch ist dieses Buch mir auch noch im 3. Jahr kaum eine Hilfe. Ich empfinde es als sprunghaft und unvollständig, nie erklärt es eine Sache bis zu Ende, neben wenig Erläuterungen stehen viele möglicherweise lustig gemeinte Mackersprüche, nach des Autors nächstem Gedankensprung kommt wieder Unverständliches das nicht erkennbar an den vorausgehenden Textabsatz anknüpft ... .
Doch das Frustrierendste an Musiktheorie für mich ist: Seit 2,5 Jahren textet mein Lehrer unverständlich auf mich ein ("A 5/9"), dass ich manchmal heulen könnte, weil ich wieder eine ganze Stunde lang nichts von dem erfasst habe, was er glaubt, durch das Aussprechen/Hinschreiben von Noten- und Akkordnamen zu "erklären".
Es ist schon ein Kreuz mit versierten Musikern ... : Man kann ihnen noch so oft sagen, dass man keine Noten kann: Sie erfassen das gar nicht. Sie wissen und erfassen nicht, dass es noch Menschen gibt, die
keine Noten lesen können. Oder die wie ich nur das c', g' und a' kennen und von dort aus startend alle anderen Noten nur durch langwieriges, fehlerträchtiges Abzählen ermitteln können (c', e' und a' sind mein "Wissens"-Rudiment aus 2 Jahren Dorf-Posaunenchor als Elfjähriger, wo ich immer nur die tiefste Trompetenstimme hatte ).
Daraus resultiert ein folgenschwerer
didaktischer Aberglaube: Versierte Musiker glauben - und darin sind sie unbelehrbar
- , sie hätten einen Sachverhalt schlüssig erklärt, sobald sie dir die entsprechenden Noten (oder Notennamen) auf ein Blatt Papier geschrieben haben ...
Klar war mir: Ich will selber die Noten lesen lernen. Ich will inhaltlich verstehen, was Musiker sagen.
Und wenn mein studierter 5-fach-multiinstrumentaler Klassik-Jazz-Rock-Profi-Studiomusiker-Gitarrenlehrer mir nicht beim Notenlernen hilft - dann muss ich auf einem alternativen Weg das Noten lesen lernen.
Mein persönliches Durchbruchserlebnis Notenlesen hatte ich vor 3 Wochen.
Ich lud mir im Appstore die kostenlose
App "Clefs" ("Notenschlüssel") herunter und begann den Lehrgang "Violinschlüssel" (ich bin nicht verwandt, bekannt oder verschwägert mit dem App-Macher, und ich habe nur die Gratis-App verwendet). Sie enthält u. a. einen Lehrgang "Violinschlüssel" und darauf aufbauend "Tonartvorzeichen mit Violinschlüssel" (sowie gesonderte Lehrgänge "Bassschlüssel", "Altschlüssel", "Tenorschlüssel", die ich noch nicht angerührt habe, um mein neues Theoriegebäude nicht gleich wieder zum Wackeln zu bringen). Man könnte aber auf jedem beliebigen Niveau in die Themen einsteigen: Wenn du die Basics schon kennst, starte einfach gleich tiefer in der Sache - oder durchlaufe es eben methodisch von der ersten Note an. Es gibt Inhaltsverzeichnisse mit Links zu jedem Kapitel, zu jeder Note.
Der
Violinschlüssellehrgang ist auch in der Gratisversion der App
komplett freigeschaltet.
Zur Eingabe in den Aufgaben tippst du auf Buchstaben. Die Buchstaben der Notennamen sind auf dem Bildschirm listigerweise gleich so im Kreis herum angeordnet wie im Quintenzirkel, nur anders herum (Quartenzirkel). Und Quarten erfreuen Gitarristen und Bassisten gleichermaßen, weil unsere Instrumente in Quarten gestimmt sind. Das visualisierst du gleichzeitig schon beim Notenlernen.
Ich verwende aber lieber den alternativen Eingabe-Modus und tippe die Notennamen über das (buchstabenlose)
Bildschirm-Klavier der App ein. So lerne ich parallel die Tastenbelegung des Klaviers/Keyboards kennen. Das klappt bei mir inzwischen ähnlich schnell, wie auf die Buchstaben im Quartenzirkel zu tippen.
Bei den meisten Aufgaben lernst du selber die Note ins 5er-Notenliniensystem zu "schreiben": Indem du sie per Drag and Drop zur richtigen Stelle in den Notenlinien ziehst (Linie, Hilfslinie oder Zwischenraum) und dort loslässt.
Die App antwortet akustisch, indem sie dir die gefragte Note vorspielt: Für deinen auditiven Kanal und dein akustisches Gedächtnis. Jedenfalls schadet das nichts. Wenn es dich stört, einfach die Telefonlautstärke herunterregeln.
An diesem ersten Tag hatte ich ermutigend schnell Erfolge beim Spielen damit per Kopfhörer in der S-Bahn. Entsprechend habe ich mich noch am gleichen Tag immer wieder mit der App hingesetzt, für insgesamt rund 4 h, auch abends bis zum Schlafen gehen.
Und dann kam es:
Hinterher scheine ich wohl intensiv von Noten und den Notenlinien geträumt zu haben. Jednefalls wachte ich am nächsten Morgen zwei Stunden vor dem Weckerklingeln auf und konnte hellwach im Bett liegend - gaaanz gaaanz laaaangsam - die Noten des Violinschlüssels vom tiefen F (auf der 3. Hilfslinie unterhalb der 5 Notenlinien) bis zum e'' (auf der 3. Hilfslinie oberhalb der 5 Notenlinien) benennen! Innerhalb von von 20 Stunden nach Download der App! Ich konnte mein Glück nicht fassen!!! Ich lag da bis zum Aufstehen und ging vor meinem inneren Auge munter in den Notenlinien herumhüpfen.
Das Ganze festige ich seither a) durch gelegentliches Herumspielen mit der App, wenn ich im ÖPNV sitze.
b) schaue ich mir ausgedruckte Notenblätter von meinem Gitarrenlehrer Zeile für Zeile an und spreche die Notennamen laut vor mich hin. Dabei achte ich noch nicht auf Vorzeichen, merke aber zunehmend, dass sie sich schon von selber ins Bewusstsein/Aussprechen drängen, wenn ich durchs Üben weiß, das bei diesem Stück jedes F in Wahrheit ein Fis ist. Gerne mache ich das direkt vor dem Schlafen gehen, damit ich das Thema mit in den Schlaf nehme (alternativ zupfe ich vor dem Schlafen meist noch ein paar Minuten Gitarre).
Dabei fiel mir auf:
Auf den Hilfslinien unter und auch über den Notenlinien bilden die Notennamen das Wort FACE (Gesicht). Unten sitzt der letzte Buchstabe von FACE (also die Note E) schon auf der untersten Linie des Notensystems. Oben ist es umgekehrt: Der erste Buchstabe von FACE (Note f'') steht noch auf der obersten Notenlinie, die drei anderen Buchstaben A, C, E ragen hinauf ins Leere, sie folgen auf den darüber liegenden Hilfslinien. (male dir selber das mit einem Stift auf ein System von 5 Notenlinien zum Nachvollziehen).
Die Notenfolge "FACE"
dockt also an die unterste und oberste Etage vom Notenliniensystem an.
Damit ist der leere Raum unter und über den fünf Notenlinien nicht mehr dieses angstmachende Vakuum. Plötzlich gibt es auch dort im Leeren Koordinaten.
Als ich das freudestrahlend meinem Gitarrenlehrer berichtete, sagte er mit der größten Selbstverständlichkeit: "Und innerhalb der Notenlinien steht auch das Wort FACE. In den vier Zwischenräumen zwischen den Linien. Ich finde es toll, was euch [Schülern] so alles zum Lernen hilft".
Herzliche Grüße
Pit